GESELLSCHAFT
Klima verändert dramatisch
Baku, 22. November, AZERTAC
Normalerweise wächst das Meereis im Herbst - dieses Jahr hat sich der Trend umgekehrt. Es schrumpft. Was geht da vor?
Nördlich von Spitzbergen ist es dunkel geworden, dort geht die Sonne nicht mehr auf. Die Polarnacht hat begonnen, der Winter naht, die Arktis kühlt aus - rund minus 25 Grad herrschen dort Mitte November. Normalerweise.
Dieses Jahr ist alles anders. - Die vergangenen Wochen lag die Temperatur in der Arktis oft nur knapp unter null, es war im November tagelang 20 Grad wärmer als üblich. Im Durchschnitt war es im Oktober vielerorts acht Grad milder als normal.
Eine Folge ist aus der Luft sichtbar: Die Meereisdecke, die im Herbst gewöhnlich rasch zunimmt, ist gut eine Million Quadratkilometer kleiner als üblich zu dieser Jahreszeit, also etwa um dreimal die Fläche Deutschlands zu klein.
Doch nicht nur die Arktis meldet einen Negativrekord seit Beginn der Satellitenmessungen vor knapp 40 Jahren für diese Jahreszeit.
Noch dramatischer wirkt jene Datenkurve, die die weltweite von Meereis bedeckte Fläche nachzeichnet. Sie fällt vollkommen aus dem Rahmen: Anstatt zu steigen wie sonst zu dieser Jahreszeit, stagniert und fällt sie seit Wochen, die Meereisfläche ist erheblich kleiner als normal.
Normalerweise dominiert das Zufrieren der Arktis den Trend. Dieses Jahr aber überlagern sich zwei besondere Entwicklungen.
Neben dem langsamen Zufrieren der Arktis taut das Meereis um die Antarktis ungewöhnlich stark. Zwar ist Frühling am Südpol, das Meereis schmilzt wie immer zur warmen Jahreszeit. Doch dieser Tage verzeichnet es ebenfalls einen Negativrekord.
Beide Extreme summieren sich zu jener bedrohlich gekrümmten Datenkurve, die eine Abnahme des globalen Meereises anzeigt, wie sie seit Beginn der Satellitenmessungen noch nicht beobachtet worden ist.
In der Arktis wirkt sich nicht nur das milde Wetter aus. Auch das Meer ist wärmer als üblich, sodass die in diesem Jahr eh nicht sonderlich dicke Eisdecke sich nur langsam schließen kann.
Die Ursachen des Negativrekords in der Antarktis aber sind unklar. "Bisher ist alles Spekulation", sagt Lars Kaleschke, Meereisforscher an der Universität Hamburg.
Im Oktober war Wissenschaftlern aufgefallen, dass starke Westwinde das Meereis vor dem Südkontinent zusammengeschoben und andernorts in niedrigere Breiten gepresst hatten, wo es taute. Die Winde könnten ein Grund sein für das Meereisdrama.
Der Unterschied in der Antarktis zum Normalen ist weniger groß als in der Arktis, doch er überrascht ebenso. Das Meereis vor der Antarktis wächst im Trend der vergangenen 40 Jahre - trotz globaler Erwärmung. Die vergangenen Wochen bedeuten eine seither nicht gemessene Schrumpfung.
Die Entwicklung in der Arktis könne teils mit der globalen Erwärmung erklärt werden, sagt Kaleschke. Die Region hat sich in den vergangenen Jahren deutlich erwärmt.
Die Größe der Meereisfläche in der Antarktis hingegen sei "von zufälligen Entwicklungen geprägt", ergänzt der Forscher. Wetterschwankungen und Ozeanströmungen bestimmen die Entwicklung - der Einfluss des Klimawandels lässt sich bislang nicht nachweisen.
Kaleschkes Resümee: "Aufgrund der großen antarktischen Variabilität ist die globale Meereisfläche nicht besonders aussagekräftig, die langfristig zu beobachtende Meereis-Abnahme in der Arktis hingegen schon."
Die Ausdehnung des Meereises allein zeigt zwar noch nicht, ob die Eismenge im Meer abnimmt - schließlich könnten die Schollen mit zunehmender Dicke die abnehmende Fläche kompensieren. Das geschieht, wenn Wind Eisschollen übereinander schiebt.
Doch auch Messungen der Dicke des Meereises in der Arktis zeigen Schrumpfung. Klimaforscher erkennen darin eine Folge der globalen Erwärmung. Sie erkunden, wie das schwindende Eis Wetter und Klima verändern wird.
Das Tauen verstärkt sich selbst: Schrumpfende Schollen legen Meerwasser frei, das von der Sonne stärker erwärmt wird als das Eis. Wärmeres Wasser verstärkt das Tauen des Meereises.
Manche Forscher fürchten deshalb, dass eine fatale Kettenreaktion in Gang gekommen ist, die sich nicht mehr stoppen lässt. Eine eisfreie Arktis im Sommer könnte die Folge sein. Sie würde die globale Erwärmung beschleunigen.