GESELLSCHAFT
Warum ist die Welt zu fett?
Baku, den 11. Juni (AZERTAG). Warum werden wir immer dicker? Ob Gene oder Genusssucht schuld sind, könnte ein Amish-Experiment klären. Ihr isoliertes Leben macht sie zu begehrten Forschungsobjekten: Nach 83 Tagen auf See dockte 1737 die Charming Nancy im Hafen von Philadelphia an. Von Bord gingen rund 500 deutschsprachige Flüchtlinge aus der Pfalz, dem Elsass, Baden und der Schweiz. In der Neuen Welt suchten die Amish Leit, die in ihrer Heimat als Ketzer brutal verfolgt wurden, Schutz, um ungestört ihren Glauben und asketischen Lebensstil praktizieren zu können. Seit nunmehr 14 Generationen leben die Nachfahren dieser Exilanten im Lancaster County, einer schwarzwaldähnlichen Hügellandschaft in Pennsylvania.
Von „den Englischen“, wie alle Nicht-Amischen genannt werden, sondern sie sich ab, heiraten nur untereinander, produzieren ihre Lebensmittel mit harter Feldarbeit selbst, verzichten auf Autos, Telefon und Strom aus der Steckdose. Sie sind all das, was eine moderne, technologieaffine Gesellschaft als rückständig bezeichnet – und dennoch könnten ausgerechnet die Amish dazu beitragen, das Rätsel der weltweiten Fettsucht-Epidemie zu lösen: Sind die Gene oder der Lebensstil schuld daran, dass immer mehr Menschen dick werden?
Erst kürzlich haben Forscher im Fachblatt Lancet ein „beunruhigendes Bild von einem substanziellen, weltweiten Anstieg der Übergewichtigkeit“ skizziert (Ng et al., 2014). Während 1980 noch 857 Millionen Menschen als übergewichtig galten, sind es heute schätzungsweise 2,1 Milliarden. In den USA sind inzwischen 71 Prozent der Männer und 62 Prozent der Frauen zu dick. Auch auf den polynesischen Inseln wie Tonga sei bereits über die Hälfte der Bevölkerung übergewichtig.
Nicht allein der Ernährungsstil dürfte die Ursache der Fettsucht-Epidemie sein. Tausende von Jahren war es etwa für die polynesischen Seefahrervölker überlebenswichtig, lange Zeit mit wenig Nahrung zu überdauern. Vorfahren, deren Gene verschwenderisch mit Nährstoffen umgingen, überlebten die langen Überfahrten zwischen den Inseln Ozeaniens nicht. Nur solche Polynesier konnten sich fortpflanzen, deren Gene in guten Zeiten besonders effektiv Fettpolster-Reserven anlegen konnten. Doch eben diese Gene sind nun angesichts von Kalorien im Überfluss ein Programm zum Dickwerden. Doch es gibt auch eine andere mögliche Erklärung: Vielleicht hat die Kultur der Polynesier, in der eher korpulente Männer wie Frauen als begehrenswert gelten, das Überleben in der Not gesichert – ohne nennenswerten Einfluss der Gene.
Wie aber lässt sich herausfinden, ob die Ursachen der Fettsucht eher in tradierten Verhaltensweisen oder in Genen begründet sind? Mit Studien an der Normalbevölkerung kommen die Forscher den Genvarianten, die zur Entstehung von Volkskrankheiten wie Fettsucht beitragen, nicht oder nur mühsam auf die Spur. Unter 2.000 New Yorkern beispielsweise variieren nicht nur die Ess- und Lebensgewohnheiten der Probanden, auch ihr Erbgut spiegelt in der Regel den Multi-Kulti-Schmelztiegel wider. In dieser Vielfalt geht die dick machende Wirkung einzelner Genmutationen meist unter wie ein Tourist im Broadway-Gewimmel.
Im Labor stellen Forscher deshalb Standardbedingungen her: Sie verwenden Mäuse, die aufgrund von Inzucht genetisch fast identisch sind. Und sie verfüttern Standardportionen. So lässt sich herausfinden, ob eine tägliche Überdosis Zucker Mäuse des einen Gentyps dicker macht als Mäuse mit einer anderen Genvariante. Unter Menschen verbietet sich ein solches Experiment. Es sei denn, eine Gruppe von Menschen schafft die Bedingungen für dieses Experiment selbst und aus freien Stücken.
Weil sie seit Jahrhunderten nur untereinander heiraten, ist die genetische Vielfalt der Amish tatsächlich fast so eingeschränkt wie bei Labormäusen. „Aus Sicht der Genetiker besteht der Genpool der Amish im Grunde nur aus den etwa 50 Chromosomensätzen der Gründerfamilien“, sagt Alan Shuldiner. Der Forscher von der University of Maryland in Baltimore kam Anfang der neunziger Jahre auf die Idee, dieses natürliche „Amish-Experiment“ zu nutzen, um Genvarianten zu identifizieren, die Diabetes, Fettsucht oder Herzkreislauf-Erkrankungen fördern. Dabei erwies sich auch die „Ordnung“ als nützlich, das Regelwerk für das Zusammenleben der Amish. Darin wird festgelegt, wie ein gottgefälliges Leben aussehen soll. Das besteht nicht nur im Verzicht auf Autos, Handys oder andere technische Hilfsmittel. Auch die Lebens- und Ernährungsweise ist darin geregelt, die deshalb bei allen Amish sehr ähnlich ist. Ebenso praktisch für Forscher erweist sich das „Fisher Buch“, in dem die Stammbäume der Amish-Familien bis zurück ins 18. Jahrhundert aufgezeichnet sind, wodurch die Forscher die Vererbung bestimmter Genvarianten nachvollziehen können.