WELT
Atomkraft als Chinas Wachstumsbranche
Baku, 27. September, AZERTAC
Kein anderes Land hat seit dem Atomunfall im japanischen Fukushima im Jahr 2011 mehr in die Atomkraft investiert als China. Noch im vergangenen Jahr stieg die weltweite Produktion von Atomstrom nur deshalb um ein Prozent, weil China seine um 18 Prozent erhöhte.
Doch nun gibt es Signale für eine energiepolitische Wende in Peking. Die hochrangige und regierungsnahe Branchenvertreterin Jade Huang spricht von einer "Entscheidung der chinesischen Regierung, Atomkraft-Projekte auszusetzen". Und der ebenfalls staatsnahe Pekinger Energieexperte Han Wenke beobachtet ein neues "kritisches, rationales Denken über die Atomindustrie".
Die Ausgangslage ist widersprüchlich. "In den vergangenen zehn Jahren hat China die Atomkraft zu seiner ureigenen Domäne gemacht. Doch seit Dezember 2016 ist dort kein kommerzielles Atomkraftwerk mehr in Bau gegangen", berichtet der unabhängige Pariser Energieexperte Mycle Schneider. Schneider ist Hauptautor des jährlich erscheinenden WNISR-Berichts über den weltweiten Zustand der AKW-Branche.
Der Bericht wurde 2017 auch auf Chinesisch publiziert. Verantwortlich dafür ist das regierungsnahe chinesische Internationale Forum für saubere Energie (IFCE), zu deren Mitgliedern die großen chinesischen AKW-Hersteller China National Nuclear Corporation (CNNC) und China General Nuclear Power Corporation (CGN) zählen. Hochrangige Vertreter des Forums stellen nun den weiteren Ausbau der chinesischen Atombranche öffentlich infrage - ein im unter Parteichef Xi Jinping straffer denn je regierten China bislang einmaliger Vorgang.
Bisher allerdings war von solchen kritischen Stimmen im chinesischen Regierungsapparat kaum etwas zu vernehmen. Eine der wenigen Ausnahmen machte der ehemalige Vizepräsident des AKW-Bauers CNNC, Li Yulun, der bis zu seinem Tod in diesem Jahr auch dem Forum angehörte. Industrieveteran Li hatte bereits nach dem Atomunfall in Fukushima öffentlich gewarnt: "Unsere Staatsführer messen der atomaren Sicherheit große Bedeutung bei, aber die Unternehmen, die ihre Aufträge ausführen, haben nicht die gleiche Auffassung." Seither galt Li in Peking als einflussreicher Atomskeptiker. Han, Zhou und Huang standen mit ihm bis zu seinem Tod in enger Verbindung.
Doch dass hinter ihrer Kritik tatsächlich bereits ein generelles Umdenken in der chinesischen Regierung steht, bezweifelt Energieexperte Schneider. "Hinweise auf eine politische Entscheidung Pekings in Sachen Atomkraft habe ich nicht", so der Autor des WNISR-Berichts. Er verweist auf US-amerikanische Atomlobbyisten, die sich noch bis Jahresende neue Aufträge aus China für die in den USA entwickelten Westinghouse-Reaktoren erhoffen.
Der Chef einer Pekinger Umwelt-Nichtregierungsorganisation kommt zu einer anderen Einschätzung. "Nach allem, was ich höre, hat die Atomlobby gerade einen schlechten Stand", sagt der Mann, der anonym bleiben möchte, weil seine Organisation in China einen prekären Status hat. Diese Atomskepsis sei nicht überraschend, erklärt der Umweltexperte: "AKW wurden in China bisher nur an der Küste gebaut, kein einziges steht an einem Fluss." Für ihn ist das ein klares Zeichen, dass es die Atomkritiker in Peking immer gegeben hat, auch wenn man offiziell nie von ihnen hörte. Aber genau das ist nun anders.