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Box-Star sagt nächsten Fight ab
Baku, 27. April, AZERTAC
Ryan Garcia ist jung, hat einen vernichtenden K.o.-Schlag, gilt als kommender Superstar des Boxens – und kämpft doch gegen sich selbst. Weil es ihm mental nicht gut geht, sagt der Amerikaner seinen nächsten Kampf ab. Die Reaktionen aus der Macho-Welt des Preiskampfes sind verständnisvoll und mitfühlend. Ein gutes Zeichen – die Themen mentale Gesundheit und Depressionen werden endlich ernst genommen.
Ryan Garcias Instagram-Post traf die Boxwelt am vergangenen Wochenende so unerwartet wie der linke Haken des 22-Jährigen oftmals seine Gegner im Ring.
"Ich weiß, dass diese Nachricht für einige meiner Fans enttäuschend sein mag, aber ich gebe heute bekannt, dass ich mich aus dem Kampf am 9. Juli zurückziehe. Jetzt ist wichtig, dass ich mich um meine Gesundheit und mein Wohlergehen kümmere. Ich habe beschlossen, mir eine Auszeit zu nehmen, um mich darauf zu konzentrieren, eine stärkere Version von mir selbst zu werden", schrieb Garcia an seine acht Millionen Follower. "Ich hoffe, dass ich bald wieder zurück bin und freue mich darauf, wieder in den Ring zu steigen, wenn ich so gesund wie möglich bin. Ich möchte Gott, meiner Familie, meinen Ärzten und meinen Unterstützern danken."
Pause statt große Kämpfe - Eigentlich hätte der Leichtgewichtler an eben jenem 9. Juli gegen Javier Fortuna ins Seilgeviert klettern sollen. Es wäre sein zweiter Auftritt in diesem Jahr gewesen, nachdem "KingRy" Anfang Januar bei seiner ersten echten Bewährungsprobe den hochgehandelten Briten Luke Campbell in Dallas mit der Mutter eines linken Körperhakens ausgeknockt hatte.
Der Knall-K.o. löste in den USA einen regelrechten Garcia-Hype aus, Promoter Oscar de la Hoya sieht in dem Schönen mit der harten Kelle ohnehin seit geraumer Zeit das neue, globale Gesicht des Boxsports – "Golden Boy 6.0", wie der originale Goldjunge selbst sagt.
Garcias und de la Hoyas Plan schien also klar: Mit einer weiteren Machtdemonstration gegen den starken Rechtsausleger Fortuna die Tür zu den Big-Money-Fights im Limit bis 61,2 Kilogramm und darüber hinaus öffnen. Ran an die großen Namen, die fetten Fleischtöpfe.
Mögliche Kämpfe gegen Garcias alten Amateur-Rivalen Devin Haney oder Mayweather-Schützling Gervonta Davis standen ebenso im Raum, wie ein Generationen-Duell mit Box-Legende Manny Pacquiao. Daraus wird vorerst nichts. Garcia zieht den Stecker. Und zwar nicht, weil er sich im Sparring die Hand gebrochen oder einen Cut über dem Auge hat. Seine mentale Gesundheit, das "Wohlergehen", ist dem US-Boy wichtiger als schnelles Geld und Ruhm. Bemerkenswert.
Boxwelt zeigt Verständnis - Genauso bemerkenswert sind die Reaktionen auf Garcias Rückzug. "Ich wünsche Ryan Garcia eine baldige Genesung. Es gibt wichtigere Dinge als Boxen. Ich hoffe, dass er sich schnell erholt", sagte Fortuna stellvertretend für viele. Der Kampf könne "jederzeit" neu angesetzt werden, wenn Garcia wieder bei 100 Prozent sei, so der Mann aus der Dominikanischen Republik. Kein Druck.
Leichtgewichts-König Teofimo Lopez, der sich mit Garcia sonst gerne mal sozial-mediale Scharmützel liefert, twitterte: "Es braucht eine mutige Seele wie Ryan Garcia, um offen auszudrücken, dass er mental schwere Zeiten durchmacht." Lopez wandte sich auch an die unvermeidlichen Netz-Spötter. "Statt mit dem Finger auf ihn zu zeigen, solltet ihr etwas daraus lernen."
In einem Macho-Geschäft wie dem Preisboxen, in dem sich die Kämpfer nicht nur physisch, sondern auch psychisch oft niedermachen und bei jeder Gelegenheit den "starken" Mann markieren, sind diese mitfühlenden, verständnisvollen Töne erstaunlich – und wichtig. Sie zeigen: Ein Eingeständnis der eigenen Schwäche wird nicht zwangsläufig ausgeschlachtet, das Thema mentale Gesundheit nicht lächerlich gemacht.
Erinnerungen an den Fall Deisler - Garcia hatte schon häufiger eingeräumt, unter dem leider oft nur schwer bezwingbaren Gegen-Ich zu leiden. Im März postete er auf Instagram: "Ich kämpfe immer noch immer jeden Tag mit Angstzuständen und manchmal auch mit Depressionen wegen meiner Angstzustände. Aber ich bin hier, um zu sagen, dass es trotzdem möglich ist, seine Träume zu erreichen. Es gibt Wege, um das zu bewältigen. Ich weiß, ich sehe aus wie jemand, der die ganze Zeit glücklich ist, aber im Inneren muss ich manchmal kämpfen, nur um zu funktionieren. Aber ich habe beschlossen, weiterzugehen." Bis jetzt.
Ein junger Sportler, der mit dem großen Druck und den gewaltigen Erwartungen, die auf ihm lasten, nicht klarkommt. In Deutschland denkt man dabei unweigerlich an den Fall Sebastian Deisler.
Der ehemalige Nationalspieler und Bayern-Star beendete 2007 im Alter von nur 27 Jahren – von vielen sicht- und unsichtbaren Verletzungen geplagt – seine Karriere. 2009 setzte der Suizid von Nationaltorwart Robert Enke das Thema Depression hierzulande auf die Agenda des Profisports.
Auch Fury litt an Depressionen - Im internationalen Boxen steht Schwergewichts-Champion Tyson Fury geradezu als Botschafter für die Nöte depressiver Menschen. Der "Gypsy King" war nach seinem Sensations-Sieg über Wladimir Klitschko 2015 in ein tiefes Loch gefallen – Ängste, Drogen Selbstmordgedanken. Erst Ende 2017 befreite sich Fury aus der Geiselhaft des Depressions-Satans, feierte ein Jahr später ein phänomenales Comeback. Auch, weil der 2,06-Meter-Riese nach Hilfe rief und ganz offen mit seiner Krankheit umging.
Tyson Fury und Ryan Garcia werden nicht die letzten Boxer sein, die an Depressionen leiden. Sie werden hoffentlich nicht die letzten sein, die ihr SOS ohne Scheu öffentlich machen. Denn nur so kann das Thema in dem von Geldgier, Erfolgsdruck und astronomischen Erwartungshaltungen zerfressenen Geschäft Profisport weiter enttabuisiert werden.