GESELLSCHAFT
Schmelzen des Grönlandeises verläuft wesentlich komplexer als bekannt
Baku, 16. Dezember, AZERTAG
Grönlands Gletscher schmelzen anders als gedacht. In bislang beispielloser Auflösung hat ein internationales Forscherteam an fast hunderttausend Punkten die Entwicklung der Gletscher dokumentiert. Demnach verlor der Eisschild von 2003 bis 2009 pro Jahr im Mittel 243 Gigatonnen Masse. Das berichten die Wissenschaftler um Beata Csatho von der Universität Buffalo im US-Staat New York in den „Proceedings of the National Academy of Sciences“.
Mit einer Ausdehnung von 1,8 Millionen Quadratkilometern ist der Grönländische Eisschild die weltweit zweitgrößte permanent vereiste Fläche - nach dem Antarktischen Eisschild. Würde das Grönlandeis komplett schmelzen, könnte der Meeresspiegel um über sechs Meter ansteigen.
Das Team um die Geophysikerin Csatho nutzte Satelliten- und Luftaufnahmen der US-Raumfahrtbehörde Nasa, die im Rahmen der Missionen ICESat und IceBridge sowie kleinerer Projekte entstanden sind. ICESat (Ice, Cloud and Land Elevation Satellite) ermittelte von 2003 bis 2010 unter anderem Eispanzerdicken und deren Veränderung an fast hunderttausend Orten per Laser. Zusätzlich vermisst die Nasa bereits seit 1993 die Höhe des Grönländischen Eisschilds von Flugzeugen aus.
Insgesamt standen den Wissenschaftlern Daten von 1993 bis 2012 zur Verfügung, die sie per Software auswerteten. So fanden sie heraus, dass der Eisschild zwischen 2003 und 2009 jährlich etwa 243 Gigatonnen oder 277 Kubikkilometer Eis verlor, was einem jährlichen Anstieg des Meeresspiegels um 0,68 Millimeter entspricht. Die Zahlen sind allerdings Durchschnittswerte - der Eisschwund variiert von Jahr zu Jahr und von Region zu Region.
Demnach verlieren Gletscher nicht unbedingt dann Masse, wenn die Temperatur steigt. Stattdessen ist die Reaktion wesentlich komplexer: Einige Gletscher wachsen sogar bei steigenden Temperaturen, während andere in beschleunigtem Tempo schrumpften. Manche wiederum wachsen und schrumpfen abwechselnd, mit abrupten Umschwüngen.
Derzeitige Modelle sind demnach zu einfach, um den Wandel des Grönländischen Eisschilds vorherzusagen. Simulationen nutzen bislang als Grundlage die Daten von vier Gletschern: Jakobshavn, Helheim, Kangerlussuaq und Petermann. Die Studie deutet darauf hin, dass diese Gletscher nicht repräsentativ sind. „Es gibt 242 Auslassgletscher auf Grönland, die breiter als 1,5 Kilometer sind. Deren Verhalten ist räumlich wie zeitlich komplex“, wird Csatho in einer Mitteilung ihrer Universität zitiert.
„Unsere Daten sind deswegen so wichtig, weil sie zum ersten Mal ein umfassendes Bild davon zeichnen, wie sich Grönlands Gletscher in den vergangenen zehn Jahren verändert haben“, betont sie. Dies sei entscheidend für die Entwicklung von Modellen dazu, wie sich der Eisschild wandeln und den Meeresspiegel über die nächsten Jahrhunderte beeinflussen könnte, ergänzt Cornelis van der Veen von der University of Kansas in Lawrence, der ebenfalls an der Studie beteiligt war.
So stellte das Team etwa fest, dass vor allem Regionen im Südosten Grönlands von rapider Schmelze bedroht seien - was aktuelle Modelle zum Eisschild nicht widerspiegelten. Csatho nimmt an, dass der Eisschild künftig schneller schmelzen könnte, als bisherige Simulationen vorhersagen.
Nun wollen die Forscher klären, warum verschiedene Gletscher unterschiedlich auf die globale Erwärmung reagieren. Bestimmende Faktoren könnten die Temperatur der umgebenden Ozeane, das Maß der Reibung zwischen einem Gletscher und dem darunter liegenden Felsbett, die Wassermenge unter dem Gletscher und die Geometrie des Untergrunds sein.