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Sehzentrum von Blinden übernimmt neue Aufgaben
Wer von Geburt an blind ist, besitzt oft ein erstaunliches Tast- und Hörvermögen. Forscher haben jetzt eine Erklärung dafür gefunden: Offenbar erfüllt die Sehrinde im Gehirn der Blinden andere Aufgaben und schärft so die Sinne.
Geburtsblinde kommen im Alltag gut zurecht. Ihre intakten Sinne scheinen geschärft, in vielen elementaren Wahrnehmungen sind sie sehenden Menschen sogar überlegen: Tastreize oder Lautsignale nehmen sie besser wahr und können sie auch besser räumlich zuordnen. Bei störenden Hintergrundgeräuschen identifizieren sie Sprachreize korrekter als Sehende, die in solchen Fällen einfach Blickkontakt zum Sprecher aufnehmen und dessen Lippenbewegungen betrachten.
Wie die besonderen Fähigkeiten von Blinden zustandekommen, ist allerdings ein Rätsel. Hirnforscher gehen davon aus, dass die sogenannte Plastizität des Denkorgans, also dessen Anpassungsfähigkeit, für die Schärfung der Sinne von Blinden verantwortlich ist. Die Untersuchungen eines internationalen Forscherteams haben nun gezeigt, dass von Geburt an blinde Menschen die eigentlich fürs Sehen zuständigen Hirnareale zum Fühlen und Hören nutzen.
Für ihre Studie untersuchten die Forscher um Josef Rauschecker von der Georgetown University in Washington zwölf sehende und zwölf blinde Probanden mit Hilfe der Magnetresonanztomographie (MRT) - einem Verfahren, das aktive Bereiche des Gehirns sichtbar machen kann. Während der Tests lösten die Teilnehmer Aufgaben, die die Verarbeitung von Informationen durch den Hör- und den Tastsinn erfordern: Sie mussten die Richtung bestimmen, aus der Töne kamen und feine Vibrationen an den Fingern erspüren.
Die Auswertung der Gehirnaktivität bei den Tests verdeutlichte den Unterschied zwischen der Verarbeitung der Sinnesreize bei Blinden und Sehenden. Bei Letzteren wurden nur das Hörzentrum und die für Tastreize zuständigen Hirnareale angesprochen. Bei den Blinden aber zeigte sich zusätzlich eine deutliche Aktivität im Sehzentrum, wie die Wissenschaftler um im Fachblatt "Neuron" berichten.
Je stärker die Aktivität im Sehzentrum der Blinden war, desto besser waren sie demnach auch in der Lage, die Aufgaben zu lösen, die auf der Verarbeitung von Tast- und Hörreizen beruhen. "Dieses Ergebnis zeigt, dass das Sehzentrum bei Blinden Funktionen übernehmen kann und dadurch die Leistung steigert", sagt Rauschecker.
Der für das Sehen zuständige Bereich des Gehirns wird auch als visueller Kortex oder Sehrinde bezeichnet und ist einer der am höchsten entwickelten Teile des Gehirns. Die Ergebnisse zeigen nach Meinung der Forscher, dass das Gehirn eine erstaunliche Flexibilität beim Nutzen seiner Ressourcen zeigt - selbst bei derartig spezialisierten Arealen wie der Sehrinde.