WELT
Sie hüten das Wissen über unseren Planeten
Baku, den 20. Dezember (AZERTAG). Ungeahnte Schätze lagern in den Depots naturkundlicher Museen. Präparierte Tiere und Pflanzen – einst von großen Expeditionen mitgebracht – liefern Forschern bis heute spannende Erkenntnisse.
Seit 50 Jahren ist „Walter“ jetzt tot. Wie schlafend liegt der Pazifische Riesenkrake, seine zwei Meter langen Arme verschränkt, in einem mit Alkohol gefüllten 40-Liter-Tank. Seine Nachbarn stammen aus dem Atlantik: Es sind Feuerwalzen, deren geheimnisvoll blaugrüne Biolumineszenz längst erloschen ist.
Auf einem Regal stehen bunte Korallen und Algen. An Haken baumeln Girlanden aus Polynesischen Baumschnecken. Unter Glas leuchtet das Perlmutt von Muschelschalen aus dem Mississippi. Einst machte die Knopfindustrie damit prächtige Gewinne. Und dann sind da 230 Vitrinen: luftdicht, maßgefertigt, klimatisiert. Aufbewahrungsstätten für zehn Millionen Schneckenhäuser.
Wir sind in Philadelphia, an der Academy of Natural Sciences. Diese Sammlung lagert eine halbe Treppe über zwei anderen, nicht weniger aufregenden Depots. Die Abteilung für Entomologie birgt Schubladen voller goldglänzender Skarabäen und vier Millionen anderer Käfer aus aller Welt. Die paläontologische Sammlung bietet 400 Millionen Jahre alte Fischknochen, Teile von Ichthyosaurus-Skeletten aus England und Zähne eines Amerikanischen Mastodons, das vor 10.000 Jahren ausgestorben ist.
Ergebnis vieler Jahrzehnte Forscherdrang - Es ist ein Potpourri des Lebens und der Evolution, das zahllose Entdecker hier über viele Jahrzehnte zusammengetragen haben. Oft ist es ja so, dass nur die Entdeckung selbst öffentlich gewürdigt wird. Für die Wissenschaft dagegen ist der Fund an sich nur der erste Schritt. Die eigentliche Arbeit folgt dann hier, im Museum, inmitten der sorgsam gehüteten Kollektionen. Hier werden Arten beschrieben, benannt, etikettiert und katalogisiert, oft erst Jahrzehnte nach ihrem Fund. Hier entlocken Biologen alten Pflanzen und Tieren neue Geheimnisse. Hier liefert jedes tote Exemplar anatomische und genetische Daten zum Verständnis des Lebens.
Die Akademie in Philadelphia wurde 1812 von Amateur-Naturforschern gegründet, das Museum ist das älteste Naturhistorische Museum der westlichen Welt und gehört zu den ersten, die für das Recht eintraten, dass jeder Mensch nach Wissen streben dürfe. Ähnliche, nicht weniger beeindruckende Sammlungen gibt es auch in Ihrer Nachbarschaft, ob in Hamburg (Zoologisches Museum), in Berlin (Museum für Naturkunde), in Frankfurt (Senckenberg-Museum) oder Wien (Naturhistorisches Museum).
Gesammelt haben Menschen schon immer. Ist es ein Relikt aus unserer Zeit als Jäger und Sammler? Das Bedürfnis, Ordnung ins Chaos zu bringen? Oder schlicht der Wunsch, etwas zu haben und zu behalten? Für manche, schrieb der Evolutionstheoretiker Stephen Jay Gould, „ist die Sammelleidenschaft eine Ganztagsbeschäftigung, eine Art seliger Wahn“. Ein Wahn, ohne den wir weniger wüssten über unsere Vergangenheit. Wobei die ersten Sammlungen eigentlich nicht dem Wissen gewidmet waren.
Lungenödem vom Eulen-Beschriften - Als Carl von Linné bahnte der so Geadelte im Geist der Aufklärung den Weg für ordnungsgemäßes wissenschaftliches Sammeln, aber auch den Übergang vom privaten zum öffentlichen Sammeln. Naturforscher begannen, die Funde mit Sorgfalt zu präparieren, nicht ohne anfangs Konservierungstechniken einzusetzen, die mehr schadeten als nützten: Schlangen wurden mit Stroh ausgestopft, Muscheln gekocht und in Sägemehl paniert. Manche Methoden waren gefährlich. „Das ist eine sehr arsenige Arbeit», schrieb 1848 der Ornithologe John Cassin. „Ich habe etwa die Hälfte der (Eulen-)Sammlung beschriftet und bekam ein Lungenödem, heftigsten Kopfschmerz und Fieber.“
Heute agieren Sammler schonender – für sich und ihre Objekte. Sie durchleuchten Tiere und Pflanzen mit Röntgenstrahlen und im Tomografen, ohne sie zu beschädigen. Temperatur und Feuchtigkeit werden konstant gehalten. „18 bis 21 Grad und 40 Prozent relative Luftfeuchtigkeit sind für naturhistorische Sammlungen ideal“, erklärt der Vogelexperte Christopher Milensky. Er arbeitet an der Smithsonian Institution, der in den USA zahlreiche Museen und Forschungseinrichtungen angehören.
Virtuelle Pflanzen und Tiere - Heute werden immer mehr Objekte gescannt und im Computer digital gespeichert. Ein Ersatz für das Original können virtuelle Pflanzen und Tiere aber nicht sein. „Man braucht beides: echte und digitale Sammlungen“, sagt der Paläontologe Ted Daeschler. „Ein digitales Exemplar ist nur eine Art Foto. Nur das Original ist die reale Ausprägung dieses bestimmten Organismus zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort.“ Robert McCracken Peck von der Academy of Natural Sciences drückt es so aus: „Hätten wir hier nicht 18 Millionen Objekte, sondern 18 Millionen Bilder, würde das wohl kaum jemanden interessieren.“
Ein letztes Argument für den Wert von Sammlungen nennt Kirk Johnson: „Viele Präparate stammen von Arten, die ausgestorben sind. Aber wir haben ihre DNA – und werden so zu Hüter des Wissens über unseren Planeten.“