WISSENSCHAFT UND BILDUNG
Wissenschaftler entdecken Ursprung der Erdbebenlichter
Baku, 9. Juni, AZERTAC
Können Blitze aus der Erde schießen? In Steinen meinen Wissenschaftler den Beweis für die jahrtausendealte Legende gefunden zu haben. Die Brocken zeigen Spuren von Starkstrom.
In der Nacht des 27. Februar 2010 fahren zwei Männer nahe der chilenischen Stadt Talca von einer Party nach Hause, als plötzlich grelle Lichtstreifen durchs Dunkel flimmern. Minutenlang zeichnet die Dachkamera ihres Autos rätselhafte Blitze auf, die aus dem Boden zu flackern scheinen. Fast gleichzeitig schüttelt ein Erdbeben die Region.
Wissenschaftler, sie werten es als Indiz für ein Phänomen, das lange als Legende abgetan wurde: Erdbebenlichter. Überlebende starker Beben berichteten schon in der Antike von „immensen Flammensäulen“. Doch erst 1966 gab es das erste Dokument: Ein japanischer Zahnarzt in der Ortschaft Matashiro war in der Nacht des 26. Februar mit seiner Kamera vor die Tür getreten, er drückte spontan auf den Auslöser, als er helles Leuchten erblickte. Dann vibrierte der Boden.
Dennoch wagten Wissenschaftler nicht, das Phänomen zu ergründen, aus Sorge, als Spinner gebrandmarkt zu werden. Seit gut zehn Jahren aber suchen vor allem Forscher in den USA und in Japan nach Beweisen dafür, dass der Boden Blitze gen Himmel schleudern kann. Ein Team um Eric Ferré von der Southern Illinois University in den USA präsentiert nun handfeste Belege.
Warnung vor Erdbeben? - In Steinen aus Erdbebenzonen wollen Ferré und seine Kollegen den Beweis für die mysteriösen Bodenblitze gefunden haben, berichteten sie jüngst auf der Jahrestagung der Europäischen Geowissenschaftlichen Union (EGU) in Wien. Taugt Stromfluss im Boden womöglich gar zur Warnung vor Erdbeben, fragen sich nun die Gelehrten.
Die Beweisstücke - sogenannte Pseudotachylite - sind Raritäten. „Sie sind für uns so wertvoll wie der Heilige Gral“, sagt Ferré. Die Steine stammen direkt aus dem Herd von Erdbeben, wo Millionen Tonnen schwere Felspakete gegeneinander rucken und den Boden zittern lassen: In einem zentimeterschmalen Streifen entlang der Kollisionszone heizt sich das Gestein auf 1700 Grad auf, so dass es weiß glüht - und schmilzt. Nach wenigen Sekunden kühlt der Brei ab und verklebt zu einer dünnen dunklen Glasschicht.
Ferré und seine Kollegin Natalie Leibovitz von der Southern Illinois University haben solche Steine mit charakteristischer Glasader an mehreren Orten erbohrt und im Labor untersucht. Ihre Analyse zeigt, dass bei Erdbeben offenbar tatsächlich Starkstrom fließen kann.
Darauf deute die extreme Magnetisierung der Minerale in den Gesteinen, sagen die Forscher: Magnetische Minerale im Gestein in der Nähe der Glasadern zeigen in andere Richtungen als die Minerale in größerem Abstand zur Bebennaht.
Partikel in Reih und Glied - Mehr noch: Die eisenhaltigen Partikel stehen wie Soldaten exakt in Reih und Glied. Die Messungen deuteten auf ein Magnetfeld hin, dessen Wirkung tausendmal stärker als im Gestein der Umgebung sei, berichtet Ferré. Nur immenser Stromfluss könne begründen, warum sich die Minerale auf solch strenge Weise geordnet hätten.
Drei Erklärungen kommen in Frage: Erstens: Umgekippte Stromleitungen. Zweitens: Der Einschlag eines Gewitterblitzes. Drittens: Ein Blitz aus dem Boden.
„Die ersten beiden Erklärungen scheiden aus“, sagt Ferré. Die untersuchten Pseudotachylite stammten tief aus dem Untergrund, Strom von oben komme als Ursache folglich nicht in Frage. Bleibe nur: Starkstrom, der im Boden entsteht.
Trotz des alten Verdachts ist es eine erstaunliche Entdeckung, denn Gestein wirkt normalerweise als Isolator, blockiert also Strom.
Erdbeben jedoch, glauben die Forscher, zertrümmern die Atome von Mineralen entlang der Kollisionszone der Felspakete, sodass sich elektrische Spannung aufbaut - und schließlich Strom durch die Minerale schießt. Erreicht der Strom die Erdoberfläche, passiert das gleiche wie bei Gewitter. Die Spannung zwischen Boden und Luft entlädt sich - es blitzt.
Was genau bei der Entfachung der unterirdischen Blitze geschieht, untersuchen Forscher derzeit in aufwendigen Laborexperimenten. Klar scheint nur, dass sich gewaltige Energien entladen. Womöglich erklären Erdbebenlichter, warum nach dem katastrophalen Beben im japanischen Kobe 1995 verbrannte Baumwurzeln gefunden wurden, meint Ferré. Wenige Meter unterhalb der Wurzeln fanden Geologen Pseudotachylite - frische Spuren von Starkstrom unter der Erde.