WELT
Zweite Kulturrevolution – Chinas soziale Parodontose
Baku, den 15. März (AZERTAG). Der chinesische Regierungschef Wen Jiabao geht ein Jahr vor seinem Abschied hart mit seinem Land ins Gericht. Es müsse sich reformieren – oder es werde zurückfallen.
An die barbarische Kulturrevolution zu erinnern, an das bürgerkriegsähnliche Chaos, das Diktator Mao Tse-tung entfesselte, ist in chinesischen Polit-Debatten ein Tabuthema. Bis jetzt. Denn Premier Wen Jiabao hat das bis heute unbewältigte Trauma in einer live übertragenen Pressekonferenz zum Abschluss des Volkskongresses gleich mehrfach erwähnt.
Er warnte vor dem Rückfall, vor einer neuen Kulturrevolution, weil Chinas Reformen unvollendet geblieben seien und Ungerechtigkeiten sowie soziale Spannungen im ganzen Land hergerufen hätten. 35 Jahre nach dem Tod Maos, dem Beginn wirtschaftlicher Reformen und politischer Öffnung stecke die zweitwichtigste Volkswirtschaft und größte Handelsmacht der Welt „in einer Krise“. Die „erworbenen Früchte könnten uns wieder verloren gehen“, mahnte der Premier. China sei ohne politische Reformen nicht in der Lage, die „neuen sozialen Probleme zu lösen. Es könnte erneut zu einer historischen Tragödie wie der Kulturrevolution kommen.“
Drei Stunden dauerte die ungewöhnliche Pressebegegnung in der Großen Halle des Volkes. Es war die längste, die der 69-jährige Wen je gegeben hat. Nichts überließ er dem Zufall, auf die meisten Fragen war er vorbereitet und las die Antworten ab.
„Vorangehen, nicht stehen bleiben“ Er erklärte, er wolle ein Fazit seiner zehnjährigen Amtszeit als Ministerpräsident ziehen. Turnusgemäß endet seine Amtszeit in einem Jahr. Dann wird Chinas neue Regierung unter dem designierten Nachfolger und bisherigen Vizepremier Li Keqiang gewählt werden. Das künftige Kabinett wird auf einem im Oktober zusammentretenden großen Wahlparteitag vorab bestimmt. Dort tritt zugleich Vizestaatschef Xi Jinping als neuer KP-Parteichef die Nachfolge des derzeitigen Parteivorsitzenden Hu Jintao an.
Der Premierminister nutzte den von ihm selbst als „meine letzte Pressekonferenz vor dem Amtswechsel“ bezeichneten Auftritt, um seine Nachfolger in Partei und Regierung aufzufordern, die überfälligen politischen Reformen mutig anzugehen. Er appellierte dabei explizit an seine Partei: „Jedes verantwortungsbewusste Parteimitglied und die führenden Funktionäre müssen dieses Krisenbewusstsein entwickeln.“ Für diese wichtigen Reformen gebe es nur einen Weg: „Vorangehen, nicht stehen bleiben. Und auf keinen Fall zurückgehen.“