WELT
Lokführer des spanischen Unglückszuges festgenommen
Baku, den 26. Juli (AZERTAG). Weshalb raste der in Spanien verunglückte Zug mit 190 Kilometern pro Stunde in eine Kurve? Der Lokführer wird nun als Beschuldigter vernommen. Er könnte wegen fahrlässiger Tötung angeklagt werden - in 80 Fällen.
Die Katastrophe hat er leicht verletzt überlebt - die Schwierigkeiten für ihn beginnen aber jetzt erst. Francisco José Garzón, der 52 Jahre alte Führer des spanischen Unglückszuges, wurde nun festgenommen. Ihm werde Fahrlässigkeit vorgeworfen, sagte der Chef der Polizei der Autonomen Region Galicien, Jaime Iglesias, am Freitag am Unglücksort in Santiago de Compostela. Garzón werde „einer Straftat in Zusammenhang mit dem Unglück“ beschuldigt. Er sei noch nicht vernommen worden, die polizeiliche Befragung werde aber „in jedem Augenblick“ erfolgen. Der Lokführer hatte bei dem verheerenden Unfall vom Mittwochabend eine Kopfverletzung erlitten. Er lag nach Medienberichten am Freitag unter Polizeiaufsicht im Krankenhaus.
Bilder vom Unglücksort zeigten ihn kurz nach der Entgleisung des Zuges mit einer Platzwunde am Kopf, Blutspritzern auf hellblauem Hemd, erschrockenen Augen und einem Telefon in der Hand. Damit hatte er zuerst die Notrufnummer der Bahn angerufen und den aufgezeichneten Satz ausgesprochen: „Ich sollte 80 fahren, hatte aber 190 drauf.“ Das verbale Geständnis wurde inzwischen von dem Unternehmen Talgo, das den Alvia-Zug einsetzte, zunächst noch informell mit dem Hinweis bestätigt, dass der Schnellzug „mit extremer Geschwindigkeit“ in die enge Kurve vor Santiago de Compostela gefahren sei.
Garzón ist ein erfahrener Eisenbahner. Seit 30 Jahren ist er im Dienst der spanischen Renfe, seit zehn Jahren als Lokführer. In dieser Funktion musste er jährlich eine Prüfung ablegen. Die Strecke von Madrid nach Galicien war ihm gut bekannt. Offenbar fuhr er gern schnell. Auf seiner Facebook-Seite, die inzwischen geschlossen wurde, fanden die spanischen Medien scherzhafte Einträge aus dem vorigen Jahr, in denen er notierte, dass er manchmal „an die Grenze“ geht und aufpassen müsse, dass er keinen Strafzettel bekomme.
Was am Donnerstagabend, als 80 Menschen ihr Leben verloren und 130 zum Teil schwer verletzt wurden, genau geschah, wird erst nach der Auswertung der Daten der „Blackbox“ hinreichend klar werden. Die vorläufigen Untersuchungen deuten mehr auf menschliches als auf technisches Versagen hin. Garzón, so scheint es, hat einfach zu spät gebremst. Seine Lokomotive hielt sich zwar in der Kurve auf dem Gleis, die beiden folgenden Waggons sprangen jedoch aus der Spur und rissen alle weiteren mit sich.
Auf dem Streckenabschnitt ist nicht, wie auf den Hochgeschwindigkeitsstrecken des spanischen AVE das Sicherheitssystem ERTMS (European Rail Traffic Management System) installiert, das bei überhöhter Geschwindigkeit automatisch zum Bremsen zwingt. Das ASFA-System für Schnellzüge wie den Alvia aktiviert nur bei mehr als 200 Stundenkilometern eine „Geschwindigkeitsbeeinflussung“. Darunter liegt die Entscheidung bei dem Zugführer.
Das ASFA-System weist jedoch durch Signale auf die Geschwindigkeitsbegrenzung hin - in diesem Fall 80 Stundenkilometer. Wenn es ordnungsgemäß funktioniert hat, wurde Garzón in der Führungskabine nicht nur elektronisch gewarnt, sondern musste auch einen Knopf drücken, um zu zeigen, dass er die Warnung erhalten hatte. Letzteres, so heißt es, habe er getan. Die Kernfrage des Richters ist also, warum er nicht oder zumindest nicht rechtzeitig gebremst hat.
Das Unglück ist auch ein Fall für die Versicherung. Nach den geltenden europäischen Regeln haben verletzte Reisende das Recht, binnen zwei Wochen eine Entschädigung zu verlangen. Sie kann bis zu 21.000 Euro reichen. Die spanische Renfe ist bei der Allianz versichert, wo angeblich für Todesfälle eine Entschädigung von 36.000 Euro vereinbart wurde. Bei tödlichen Autounfällen werden üblicherweise 120.000 Euro ausbezahlt. In dieser Größenordnung bewegten sich auch die Entschädigungen für die Angehörigen der Opfer des Flugzeugunglücks von Spanair vor fünf Jahren in Madrid, bei dem 154 Menschen umkamen.