GESELLSCHAFT
Metropolenstress kann krank machen
Baku, den 31. August (AZERTAG). Die Stadt schläft nie- genau dieser Gedanke zieht viele Menschen in die Großstadt. Doch der Metropolenstress kann krank machen. Psychiater fordern, das Wissen bei der Stadtplanung zu berücksichtigen. Viele Menschen, die in der Großstadt wohnen, nehmen das Grundrauschen der Stadt nicht mehr bewusst wahr. Für manchen aber, der nach einem Großstadttag tief in der Nacht den Fernseher des Nachbarn hört, ist das vor allem eines: Stress.
Vermutlich ist es die Mischung aus sozialer Dichte und sozialer Isolierung, die den Stadtstress ausmacht. Man erforscht seit Jahren, wie sich die Großstadt auf die psychische Gesundheit ihrer Bewohner auswirkt. Durch diverse Studien belegt ist: Stadtmenschen haben ein doppelt so hohes Erkrankungsrisiko für Schizophrenie; für Depressionen liegt es beim 1,4-fachen im Vergleich zu Landbewohnern. Es gibt sogar ein Dosis-Wirkungsverhältnis: Je größer die Stadt, desto höher das Schizophrenie-Risiko. Damit ist dieser Faktor vergleichbar hoch wie Cannabis-Konsum, der ja ein bekannter Risikofaktor für Schizophrenie ist. Suchterkrankungen hingegen kommen in Stadt und Land gleich häufig vor.
Aber ziehen Städte vielleicht besonders viele instabile und damit stresssensible Menschen an? Es gibt zwei Thesen. Die eine lautet: Die Stadt verändert den Menschen. Die andere: Labile Menschen ziehen eher in die Stadt. Eine Reihe von Untersuchungen zeigt jedoch, dass eher Ersteres gilt. Städte verändern die stressabhängige Emotionsverarbeitung.
Eine Studie zeigt, dass das Gehirn von Großstädtern bei negativem Stress - dem Lösen schwieriger Mathe-Aufgaben plus kritischem Feedback- anders und deutlich empfindlicher reagiert als das von Kleinstädtern oder erst recht von Landbewohnern. Je länger ein Mensch in der Stadt verbracht hat, vielleicht sogar bereits als Kind, desto geringer ist die Fähigkeit zur Emotionskontrolle. Und diese Vulnerabilität bleibt bestehen - selbst wenn man als Erwachsener aufs Land zieht.
Dennoch: Stadtleben macht nicht zwangsläufig krank, denn genetische und Umwelt-Faktoren spielen ebenfalls eine Rolle. Adli glaubt, dass Stress dann gesundheitsrelevant wird, wenn der Einzelne sich nicht nur räumlich eingeengt und zugleich isoliert fühlt, sondern auch das Gefühl hat, seine Umgebung nicht kontrollieren zu können. Das ist die toxische Mischung. Vermutlich deshalb würden beispielsweise Migranten, die in einem sozial schwächeren Viertel zusammenlebten, seltener psychisch krank als solche, die allein in einer besser gestellten Umgebung wohnten.
In London sei die Zahl der psychischen Erkrankungen bei Migranten aus der Karibik achtmal so hoch wie bei Einheimischen. Wenn zu viele gewachsene, soziale Strukturen weggespart werden, reißt das Auffangnetz irgendwann. Mit der Gentrifizierung von Straßen und ganzen Stadtvierteln würden nicht nur alteingesessene Bewohner verdrängt, sondern auch deren Anlaufstellen wegfallen.
Jugendzentren, Beratungsstellen und Begegnungsmöglichkeiten offen halten. Außerdem: Breitere Bürgersteige, die Platz für eine Bank vorm Haus bieten. Plätze, die zum einladenden Treffpunkt werden. Mehr Grünflächen und freie Blickachsen. Mehr Wege zu Fuß. Jeder Plausch mit den Nachbarn tut gut. „Ein Park, in dem gegrillt wird, bringt mehr als eine perfekte Grünanlage, in der „Rasen betreten verboten“ ist.“
Stadtplaner und Architekten sollten stärker mit Psychiatern zusammenarbeiten, so die Ansicht der Forscher. Unter veränderten Vorzeichen kann das pralle Großstadtleben und sein vielfältiges Angebot dann nämlich sogar vor Stress schützen - wenn jeder die Möglichkeit hat, es wahrzunehmen und mitzumachen. Jeder muss sich seines individuellen Gesundheitsrisikos bewusst sein und entscheiden, ob er die Chance, die ihm das Großstadtleben eröffnet, nutzen will.