WELT
Schildkröten aus Echsen
Baku, 5. September, AZERTAC
Schildkröten sind Exoten unter den Reptilien. Wie genau sie sich entwickelten und wo sie einzuordnen sind, ist umstritten. Vielleicht aber nicht mehr lange. In Südafrika fanden Forscher ein Fossil, „nach dem die Wissenschaft 150 Jahre gesucht hat“.
Was hatten Schildkröten, bevor ihnen ein Panzer wuchs? Ein Figurproblem: Die frühesten Schildkröten sahen aus, als hätte man einen Leguan flach- und breitgedrückt.
Diese Vorstellung von den Vorfahren und frühesten Vertretern der Schildkröten ist seit langer Zeit konsensfähig und durch etliche fossile Funde belegt. Demnach entstanden Schildkröten aus Echsen, denen zunächst verbreiterte, die inneren Organe schützende flache Rippen wuchsen. Und die verschmolzen im Laufe der Evolution irgendwann zu Knochenplatten, die sich noch später zu einem fast das gesamte Tier umhüllenden Panzer schlossen.
Erst im Sommer 2015 fanden deutsche Forscher mit Pappochelys rosinae (der „Opaechse“) den mit 240 Millionen Jahre bisher ältesten, eindeutig den Schildkröten zugeordneten Vertreter dieser Tiergruppe. Er entsprach diesem Bild voll und ganz. Seitdem ist Baden-Württemberg quasi die Urheimat der Schildkröten.
Besonders interessant war der Fund von Pappochelys aber aus einem anderen Grund. Bisher war es stark umstritten, was das genau für Reptilien waren, aus denen sich Schildkröten entwickelten. Und das liegt an einer Eigenart der Schildkröten und bis zu Pappochelys' Fund aller ihrer fossilen Vorfahren, die sie mit keinem anderen lebenden Reptil teilen - dem Aufbau ihres Kopfes.
Lebende Reptilien zählt man genauso wie die Archo- und Dinosaurier sowie deren Nachfahren, die Vögel, zu den sogenannten Diapsida. Mit diesem Begriff fasst man Wirbeltiere zusammen, deren Schädel über zwei Schläfenfenster verfügen. Wir Säugetiere sind dagegen Synapsida mit nur einem Schläfenfenster. In grauer Vorzeit gab es dazu eine Bauform mit drei Schädelfenstern (Triapsida) sowie eine, die über die Nasen- und Augenhöhle hinaus keine weiteren Öffnungen aufwies.
Diese höchst archaischen Reptilien nannte man Anapsida. Und deren Schädel entspricht in seinem Aufbau dem, was man an heutigen und (mit Ausnahme von Pappochelys) auch allen fossilen Schildkröten beobachten kann. Nicht wenige Experten glauben darum, dass Schildkröten die letzten Überlebenden archaischer Anapsida seien - eine Unterklasse der Reptilien, die ansonsten mit dem Ende des Perm verschwand.
Pappochelys untermauerte die These, dass Schildkröten in Wahrheit Diapsida waren, denen im Laufe der Evolution ihrer Panzerung die Schläfenfenster zuwuchsen. Damit wären sie „ganz normale“ Reptilien und keineswegs späte Überlebende einer ansonsten ausgestorbenen Tiergruppe.
Gestützt wird diese Ansicht nun durch die Neuanalyse eines Fundes in Südafrika. Eunotosaurus africanus lebte vor rund 260 Millionen Jahren und ist der Forschung bereits seit 1892 bekannt. Seine Zuordnung zu den Schildkröten ist umstritten - die einen halten ihn für einen potenziellen Vorfahren, die anderen nur für einen engen Verwandten.
Versteckspiel: Sind Schildkröten „Schein-Anapsida“? - Ein US-amerikanisches Forscherteam lieferte nun Argumente für seine Einordnung unter die frühen Vorfahren der Schildkröten. Was ihnen erstmals gelang, war ein Blick in den Schädel dieses rätselhaften Tieres: Mithilfe von Mikro-CT-Aufnahmen wiesen US-Forscher nach, dass Eunotosaurus dem „deutschen“ Pappochelys nicht nur im Körperbau ähnelte, sondern auch über einen diapsiden Schädel verfügte.
Gaberiel Bever, Co-Autor der im Fachjournal „Nature“ veröffentlichten Studie: „Was wir fanden, macht nicht nur das enge verwandtschaftliche Verhältnis von Eunotosaurus zu Schildkröten klar, sondern auch, auf welche Weise Schildkröten mit anderen heutigen Reptilien verwandt sind.“
Und zwar eng - Schildkröten, so Bever und seine Co-Autoren, seien sozusagen „verdeckte“ Diapsida.
So sagt Gaberiel Bever: „Der Schädel von Eunotosaurus wächst in einer Weise, die seine diapside Natur bei Jungtieren offensichtlich macht, sie bei ausgewachsenen Exemplaren aber fast vollständig verschwinden lässt. Wenn sich dieses Muster im Laufe der Evolution verstärkte, dann könnte der diapside Schädel der Schildkröten-Vorfahren nach und nach durch einen anapsiden Schädel ersetzt worden sein. Genau das sehen wir heute bei Schildkröten.“
Wo genau Schildkröten im Stammbaum der diapsiden Reptilien einzuordnen wären, bleibe aber noch zu klären, so Bever. Genau das sei ja aber die Schönheit der Wissenschaft: „Neue Entdeckungen werfen oft mehr Fragen auf, als sie beantworten.“