GESELLSCHAFT
Neue Ära der Gentherapie soll Herzinfarkt stoppen
Baku, den 16. Juni (AZERTAG). Forscher Kiran Musunuru will mittels einer raffinierten Methode Herzinfarkte verhindern. Die dahintersteckende Technik gilt als gewaltiger Durchbruch in der Gentechnik, die beiden Entdeckerinnen sind heiße Kandidaten für den Nobelpreis.
Die meisten Forscher scheuen sich, das Wort „heilen“ in den Mund zu nehmen, wenn es um die großen Geißeln der Menschheit geht. Solche Bescheidenheit ist Kiran Musunuru fremd: Er begnügt sich nicht einmal mit Heilung. „Ich möchte noch erleben, wie der weltweite Killer Nummer eins ausgerottet wird“, sagt er.
Und mehr noch: Musunuru glaubt auch zu wissen, wie dies gelingen kann. Um dem Herzinfarkt den Garaus zu machen, will sich der Stammzellforscher der Harvard University ein gentechnisches Verfahren namens Crispr/Cas9 zunutze machen. So sperrig der Name, so gewaltig ist die Erwartung, die sich an diese neue Technik knüpft. Die Wissenschaftszeitschrift „Science“ kürte sie zum „Durchbruch des Jahres 2013“, der Nobelpreisträger Craig Mello erklärte sie zu „einem bahnbrechenden Triumph der Grundlagenforschung“, und Musunuru hält ihre beiden Entdeckerinnen für heiße Nobelpreiskandidaten.
Crispr/Cas9-Fieber in den Labors - Gerade einmal anderthalb Jahre ist es her, dass zwei Forscherinnen in Kalifornien und Schweden unabhängig voneinander herausfanden, dass sich bestimmte bakterielle Gene eignen, um daraus Werkzeuge zur Genmanipulation herzustellen. Sie erlauben es präziser als je zuvor, einzelne Gene im Erbgut von Zellen auszuschalten oder zu verändern.
Kaum waren diese Befunde veröffentlicht, brach in Labors weltweit ein Crispr/Cas9-Fieber aus. In Mäusen und in Fadenwürmen, in Zebrafischen, Fruchtfliegen und Menschenzellen wurde das neue Verfahren erprobt. Und was immer auch die Forscher ausprobierten - es glückte. „Ein absoluter Anfänger hat die Technik bei uns zum Laufen gebracht“, berichtet Mello. Und Musunuru erklärt: „Wo man früher anderthalb Jahre brauchte, um eine genmanipulierte Maus herzustellen, klappt es jetzt in drei Wochen.“
Auch in die Medizin wird die neue Technik wohl bald Eingang finden. Kaum ein Biotechnologe zweifelt daran, dass mit Crispr/Cas9 eine neue Ära der Gentherapie anbrechen wird. „Ob man es mag oder nicht“, sagt Musunuru, „die Schwelle zur Herstellung von Designer-Babys ist niedriger geworden.“ Was also läge näher, als diese Technik auch zur Ausrottung des Herzinfarkts einzusetzen?
Großer Hoffnungsträger der Branche - Musunuru hat dafür ein Gen im Sinn, das verblüffenderweise völlig nutzlos zu sein scheint. PCSK9 heißt das Kürzel dieses Gens, und seine Entdeckung vor elf Jahren galt als Sensation. In Familien, in denen es infolge einer Mutation hyperaktiv ist, verhindert dieses Gen, dass die Zellen Cholesterin aufnehmen. Entsprechend reichert sich das Fett im Blut an, der Cholesterinwert schießt nach oben.
Oftmals landen die Träger dieser Mutation schon im Jugendalter mit dem ersten Herzinfarkt im Krankenhaus. Bei etwa drei Prozent der Bevölkerung ist es genau umgekehrt: Eine Mutation schwächt das Gen PCSK9, oder sie schaltet es sogar ganz ab. Die Folge: Die Zellen können ungehindert Cholesterin konsumieren. Träger dieser Mutation sind, wie Musunuru es formuliert, „Gewinner in der Genlotterie“: Ihr Risiko, einen Herzinfarkt zu erleiden, ist um bis zu 90 Prozent reduziert. Ein Gen, das nur schadet und nichts nutzt: Eigentlich dürfte es so etwas gar nicht geben. „Wir wissen nicht, warum es sich im Erbgut findet“, sagt Musunuru.
Möglicherweise handle es sich um ein evolutionäres Relikt, das einst in Hungerzeiten verhinderte, dass der Körper das knappe Cholesterin allzu verschwenderisch verbraucht. „In Wohlstandsgesellschaften aber hat es diesen Sinn verloren.“ Für die Pharmaindustrie dagegen war dieses Gen ein Segen: Sofort machten sich gleich drei Konzerne - Amgen, Regeneron und Pfizer - daran, Antikörper gegen PCSK9 zu entwickeln.
Diese zählen zu den großen Hoffnungsträgern der Branche: Fürs Geschäft gibt es nichts Besseres als ein Präparat, das, um wirksam zu sein, lebenslänglich eingenommen werden muss. Musunuru dagegen fragte sich, ob es nicht auch möglich sei, das lästige Gen PCSK9 ein für alle Mal auszuschalten, statt es lebenslang durch Antikörper in Schach zu halten.
Er probierte es mit der Crispr/Cas9-Technik, und tatsächlich: Wenige Tage nachdem er den Versuchsmäusen die gentherapeutische Spritze gegeben hatte, verstummte das PCSK9-Gen in der Leber, der Cholesterinwert sank um mehr als ein Drittel. Und so blieb es auch, ein Mäuseleben lang.
Bei aller Euphorie ist sich jedoch auch Musunuru bewusst, dass bis zu einer Anwendung am Menschen noch viele Jahre vergehen werden. Erst wenn alle Sicherheitsbedenken ausgeräumt sind, ist an eine Genkur für Millionen auch nur zu denken. Musunuru wird deshalb zunächst bei Mäusen bleiben.
Pläne für den nächsten Schritt hat er dabei bereits. Und wieder soll ihm dabei eine Neuheit aus dem Arsenal der Bioingenieure helfen: Diesen nämlich ist es gelungen, Mäuse zu züchten, deren Lebern aus menschlichen Zellen bestehen. Diese bizarren Mensch-Maus-Chimären machen es möglich, dass der Harvard-Forscher seine Genspritze demnächst auch an Menschenlebern ausprobieren kann.