WELT
Wahlkampf im Ausnahmezustand
Baku, den 4. April (AZERTAG). Afghanistan wählt einen neuen Präsidenten. Seine Aufgabe: den Vielvölkerstaat nach Abzug der Nato zusammenzuhalten. Drei Kandidaten buhlen um Wähler, trotz täglicher Gewalt. Es wäre die erste geordnete Machtübergabe in der Geschichte des Landes.
Der Wahlkampf hat den Kandidaten sichtlich mitgenommen. Fast zwei Monate lang ist Ashraf Ghani durch Afghanistan getourt, in den Provinzen trat der frühere Finanzminister und Weltbankmanager vor Tausenden Menschen auf, hat mit ihnen gebetet und dann für sich geworben.
Am Mittwochmittag nun klettert der hagere Mann mit der Glatze in braunen Pluderhosen und langem Hemd auf die Bühne der Loya-Jirga-Halle am Rand von Kabul. Eigentlich tagen hier die Stammesältesten, heute dient die schmucklose Halle als Ort des Wahlkampfabschlusses vor der Abstimmung am Samstag.
Mit heiserer Stimme krächzt Ghani fast nur noch, muss sich erst mal sammeln, nimmt einen Schluck Wasser. „Ich danke Gott, dass ich ein Afghane bin“, brüllt er dann. Die Halle tobt. In den ersten der rund 50 Stuhlreihen hocken seit Stunden geduldig afghanische Würdenträger und Dorfälteste mit langen Bärten, Turbanen und traditionellen Gewändern. Hinter den VIP-Plätzen stehen junge Leute mit Jeans und Gel-Frisuren auf ihren Stühlen. Sie schwenken afghanische Fahnen, applaudieren wild. „Ihr seid die Zukunft“, ruft Ghani, „lasst uns die Aufgabe angehen!“
Erste friedliche Machtübergabe in der Geschichte - Die Aufgabe ist riesig. Zum ersten Mal in der Geschichte soll mit der Präsidentschaftswahl eine friedliche Machtübergabe über die Bühne gehen, nach zwei Amtszeiten muss Amtsinhaber Hamid Karzai seinen Stuhl räumen. Ghani, wie Karzai ein Paschtune aus dem Süden, gehört zu den drei aussichtsreichsten Kandidaten. Er und seine beiden Konkurrenten, der Ex-Außenminister Zalmai Rassoul und Abdullah Abdullah, früher Sprecher des Volkshelden Ahmed Schah Massud, ringen 13 Jahre nach dem Ende des Taliban-Regimes um den Platz im Präsidentenpalast.
Um Politik ging es in diesem Wahlkampf eher am Rande, keiner der Kandidaten hat ein richtiges Programm vorgelegt. Stattdessen setzten alle drei auf Massenveranstaltungen als Symbol. Wahlen in Afghanistan werden traditionell von dem gewonnen, der die verschiedenen Volksgruppen in dem Vielvölkerstaat hinter sich bringen kann. Ghani und Rassoul setzen auf die Paschtunen aus dem Süden, Abdullah kann sich auf die Tadschiken aus dem Norden verlassen. Dass ein Kandidat im ersten Wahlgang gewinnt, gilt als unwahrscheinlich; erst eine Stichwahl Ende Mai wird die Entscheidung bringen.
Im komplizierten Machtgefüge Afghanistans machten die Kandidaten einige Verrenkungen. Ghani, der sich seit Jahren als moderner Reformer gibt, holte mit General Abdul Raschid Dostum einen Usbeken aus dem Norden in sein Team. Dass Dostum wegen seiner blutigen Rache an Tausenden Taliban im Jahr 2001 weltweit als Kriegsverbrecher und wegen seines exzessiven Lebensstils als unberechenbar gilt, störte nicht. Vielmehr setzt Ghani darauf, dass Dostum ihm die Stimmen von rund zwei Millionen treuen Usbeken aus dem Norden sichert.