GESELLSCHAFT
Zunahme depressiver Erkrankungen hat auch mit gesellschaftlicher Akzeptanz zu tun
Baku, 29. Januar, AZERTAG
Zwar leiden immer noch mehr Menschen an Rückenschmerzen als an Depressionen, doch wer aufgrund der psychischen Erkrankung fehlt, fällt im Schnitt mehr als 60 Tage aus. Und auch wenn Depressionen kein Tabu mehr sind, sind noch viele Fragen ungeklärt. Nur niedergeschlagen oder schon depressiv? Der Übergang von einer ständigen psychisch-seelischen Belastung wie Stress zu einer Erkrankung mit einer deutlich körperlichen Komponente ist offensichtlich fließend. Behandelt werden die Patienten von Medizinern und Psychologen denn auch sowohl mit direkt auf den Körper wirkenden Medikamenten (Antidepressiva) als auch mit auf Seele und Geist wirkender psychotherapeutischer Betreuung.
Dieser fließende Übergang ist denn auch schwer zu greifen. Das könne durchaus dazu führen, dass der eine oder andere eine Depression diagnostiziert bekomme, obwohl er gar nicht krank, sondern einfach nur traurig ist, erläutert der Chef der Techniker Krankenkasse (TK), Jens Baas, bei der Vorstellung des TK-Depressionsatlasses.
Die Diagnostik sei zwar inzwischen besser geworden, sagt Baas. Allerdings habe man immer noch ein bisschen Bauchschmerzen bei der Qualität der Diagnosen. Gerade die Befunde zu psychischen Problemen aus dem hausärztlichen Bereich müssten zumindest mal hinterfragt werden.
Baas, gelernter Mediziner, verweist zur Definition von Depressionen auf neueste Klassifikationen der amerikanischen psychiatrischen Gesellschaften. Danach fällt zum Beispiel Traurigsein zwei Wochen, nachdem ein naher Angehöriger gestorben ist, schon unter die Rubrik „psychiatrische Erkrankung“.
Die Erkrankung kommt häufig nach belastenden Erlebnissen wie dem Verlust eines Angehörigen oder Beziehungsproblemen auf. Auch einschneidende Veränderungen wie die Pensionierung können ein Auslöser sein - jeder kennt solche Fälle in seinem persönlichen Umfeld. Und gerade weil die Erkrankung nicht als körperliche wie Magengeschwüre oder Herzinfarkt zu erkennen ist, wird sie sehr häufig unterschätzt.
Aufgrund von Depressionen fallen zwar wesentlich weniger Menschen bei der Arbeit aus als durch die „Volkskrankheit“ Rückenbeschwerden. Sie bleiben aber wesentlich länger zu Hause - im Durchschnitt 64 Tage. Insgesamt liegen laut Studie die Produktionsausfälle dadurch bei rund vier Milliarden Euro. Von ihren gesamtgesellschaftlichen Auswirkungen könne die Depression inzwischen als „Volkskrankheit“ durchgehen.
Weil viele Fragen offen sind, sei auch nicht eindeutig erkennbar, weshalb gerade Callcenter-Agenten, Altenpfleger, oder Erziehungs- und Sicherheitsmitarbeiter besonders häufig in Depressionen verfallen. Dagegen können Stress oder ähnliche Belastungen Vorständen, Geschäftsführern, Unternehmensberatern, Software-Entwicklern oder Ärzten nach der Statistik offenbar weitaus weniger anhaben. „Wir vermuten, aber das ist an den Daten nicht ablesbar, da scheint schon ein gewisser Faktor Selbstbestimmung eine Rolle zu spielen“, argumentiert Baas.
Auch kann er nicht erklären, weshalb im Norden mehr Menschen mit Depressionen zu Hause bleiben als im Süden. Ebenso wenig eindeutig ist, weshalb Menschen im Osten weniger Antidepressiva schlucken als im Westen. Allerdings gebe es in beide Richtungen Annäherungen.
Eines scheint indessen klar zu sein: Die Zunahme der depressiven Erkrankungen hat auch etwas mit der deutlich gestiegenen gesellschaftlichen Akzeptanz zu tun. Es gebe eine Reihe Prominenter, die ihre Depressionen öffentlich gemacht haben.