Amerikaner fühlen sich einsamer als Europäer

Einsamkeit gilt zunehmend als globales Gesundheitsproblem
Baku, 19. März, AZERTAC
Manche Fachleute sprechen bereits von einer Epidemie: Menschen, die sich einsam fühlen, haben dieses Problem nicht bloß für sich allein. „Einsamkeit wird weltweit zunehmend als Thema der öffentlichen Gesundheit beachtet“, erklärt der Psychologe Frank Infurna von der Arizona State University. Die wahrgenommene gesellschaftliche Isolation erhöhe das Risiko für Depressionen, Immunschwäche, chronische Krankheiten und vorzeitige Sterblichkeit. Dies sei jedoch kein unabwendbares Schicksal: Staaten könnten gegen die Welle der Einsamkeit ansteuern.
Das gelingt allerdings nicht allen Ländern gleichermaßen. Große Unterschiede fand ein Forschungsteam um Infurna in einer Langzeit-Längsschnittstudie, die nun in der Fachzeitschrift „American Psychologist“ veröffentlicht wurde. Demnach klafft eine „Einsamkeitslücke“ zwischen US-Bürgern und Europäern.
Die Forschenden haben von 2002 bis 2020 mehr als 53.000 Menschen aus den USA und zwölf europäischen Ländern sowie Israel nach ihrem Befinden gefragt. Ausgewertet wurden die Antworten derer, die zum jeweiligen Zeitpunkt zwischen 45 und 65 Jahre alt waren. „Erwachsene mittleren Alters bilden das Rückgrat der Gesellschaft“, erklärt Infurna die Auswahl. Sie stellten den Hauptteil der Arbeitskräfte, finanzierten jüngere ebenso wie ältere Familienangehörige durch ihre Einkommen mit.
Sozialstaat hilft - Das Ergebnis der Befragung: Die Einsamkeit stieg auf beiden Seiten des Atlantiks im Lauf der Zeit von Generation zu Generation an. Besonders auffällig jedoch sind die durchweg deutlich höheren Werte in den USA. Hier sei der Vergleich mit einer Epidemie gar nicht so passend, denn epidemische Krankheiten würden in Wellen kommen und gehen, berichten die Fachleute. Die amerikanische Einsamkeit hingegen sei eher endemisch zu nennen – unaufhörlich stark, wie AZERTAC unter Berufung auf Spiegel berichtete.
Nur die Engländer näherten sich den einsamen Amerikanern im Lauf der Zeit an, in der ab 1965 geborenen Generation X gebe es zwischen beiden Nationen gar keinen messbaren Unterschied mehr. Die Einsamkeit im Mittelmeerraum nehme etwas langsamer zu, in kontinentaleuropäischen Ländern wie Deutschland und Frankreich bleibe sie annähernd stabil darunter. Die Nordeuropäer litten am wenigsten unter Einsamkeit, sogar mit abnehmender Tendenz in der jüngsten Generation.
Als Erklärung für den US-Nachteil verweist das Forschungsteam auf kulturelle Normen des Individualismus – wenig ausgeprägten Gemeinschaftssinn, der sich auch in der Nutzung von Social Media und politischer Polarisierung zeige. Daneben spürten die Einzelnen sozioökonomischen Druck durch Unsicherheit im Job, ungleiche Einkommen, häufige Umzüge und schwache familiäre Bindungen. Verstärkt sei jeder auf sich selbst gestellt, weil es in den USA ein schwächeres soziales Sicherheitsnetz mit Erziehungszeiten, Arbeitslosenversicherung und Kinderbetreuung gibt als in manchen europäischen Staaten. Den Sozialstaat auszubauen, meint Infurna, könne am besten gegen die grassierende Einsamkeit helfen.