WELT
Japan: Eine der niedrigsten Geburtenraten der Welt
Baku, 29. Oktober, AZERTAC
Die japanische Gesellschaft altert so sehr, dass Forscher einen Countdown bis zum Untergang eingerichtet haben. Ein Fotograf gibt Einblicke in den oft arbeitsreichen Alltag der Ältesten.
In Japan trifft eine der niedrigsten Geburtenraten der Welt auf eine der höchsten Lebenserwartungen. Die Folgen zeigen sich auf den Straßen des Landes, auch Menschen jenseits der 90 sind ein fester Bestandteil der Gesellschaft. Der Fotograf Lee Chapman hat ihren Alltag in Tokio dokumentiert - ungeschönt und doch schön.
Auf seinen Streifzügen fotografierte er die Ältesten so, wie sie den Alltag der Stadt mitgestalten. Seine Aufnahmen zeigen eine vom Leben gekrümmte Frau genauso wie eine 93-Jährige, die noch immer jeden Abend die Tür zu ihrer Bar öffnet.
Viele der Bilder zeugen von einem harten Arbeitsleben. Tatsächlich stellt die schnell alternde und gleichzeitig schrumpfende Bevölkerung die Gesellschaft Japans vor immer größere Probleme.
Der Wunsch, bis ins hohe Alter zu arbeiten - Einer aktuellen Studie zufolge haben 2015 in Japan geborene Mädchen eine Lebenserwartung von 86 Jahren, bei Jungen gehen Forscher von 80 Jahren aus. Bei der Versorgung der Ältesten spielt neben Einrichtungen wie einer staatlichen Pflegeversicherung bis heute die Familie eine große Rolle.
Traditionell ist es Aufgabe des ältesten Sohnes, mit seiner Familie in die Wohnung der Eltern zu ziehen und sie bis zu ihrem Tod zu begleiten. 1970 wohnten noch 50 Prozent der 65-Jährigen und Älteren in einem solchen Drei-Generationen-Haushalt, 2009 waren es immerhin noch 32 Prozent, heißt es in einer Studie der Universität Heidelberg.
Trotzdem arbeiten viele Japaner bis ins hohe Alter. 2005 war fast jeder vierte über 65-Jährige in Japan voll erwerbstätig. Zu erklären sei dies einerseits mit knappen Renten, teuren Ausbildungen und teuren Hochzeiten der Kinder, schreiben die Heidelberger Forscher in einer Untersuchung des Altersbildes der japanischen Kultur. Daneben hatten viele Japaner jedoch das Bedürfnis, auch im Alter eine fordernde und sinnvolle Aufgabe zu erfüllen, wenn es die Gesundheit zulässt.
Countdown bis zum Untergang der Japaner - In Zukunft wird es noch deutlich wichtiger werden, dass auch ältere Japaner einen Beitrag zur Gesellschaft leisten. Die Prognosen zur Altersstruktur des Landes sind so bedenklich, dass Forscher der Universität Tokio einen Countdown eingerichtet haben. Demnach wird in rund 642.700 Tagen, genauer gesagt im Jahr 3776, in Japan nur noch ein Kind zur Welt kommen und die Gesellschaft wäre am Ende.
Das Hauptproblem ist die niedrige Geburtenrate. Aktuell bringt jede Frau im Schnitt 1,4 Kinder zur Welt, 2,1 wären notwendig, um die Zahl der Bevölkerung aufrecht zu halten. Ändert sich nichts, sagen Experten einen enormen Bevölkerungsrückgang voraus. Von heute 127 Millionen Menschen würden bereits 2050 weniger als 100 Millionen übrig bleiben, schätzt das National Institute of Population and Social Security Research in Japan (IPSS).
Damit schrumpft auch die Zahl derer, die sich um die Alten kümmern können: 2010 waren in Japan im Schnitt noch 2,8 arbeitende Menschen für die Versorgung eines alten Menschen zuständig. 2060 könnten es nur noch 1,3 sein, warnt das IPSS.
Männer in der Hausarbeit - Trotzdem bleiben Gründe, zu hoffen. Seit einem Tiefpunkt im Jahr 2005, als Frauen nur noch 1,26 Kinder zur Welt brachten, steige die Geburtenrate langsam aber stetig wieder an, schreibt "The Japan Times". 2013 war der Wert mit 1,43 sogar höher als der Deutschlands (1,38). Durch den höheren Altersdurchschnitt kommen in Japan jedoch im Verhältnis auch weniger Frauen dafür infrage, Kinder zu bekommen.
Damit sich grundlegend etwas verändert, muss sich die Gesellschaft wandeln - in Japan wie überall sonst auf der Welt. Einen wichtigen Punkt sehen Experten in der Gleichberechtigung von Mann und Frau: Erst wenn Männer viel Verantwortung im Haushalt übernehmen, können es sich Frauen leisten, Karriere zu machen und zusätzlich Kinder zur Welt zu bringen.
Hier dokumentiert die "Japan Times" ebenfalls eine positive Entwicklung in dem asiatischen Land: Während Männer 1996 im Schnitt 27 Minuten täglich mit Haushaltsarbeit verbrachten, waren es 2001 bereits 49 Minuten und 2011 sogar schon 69 Minuten.
Auch auf höherer Ebene wird versucht, das Problem anzugehen. Ende 2015 gründete der japanische Premierminister Shinzo Abe ein Beratungsgremium zu dem Thema. Abe ist klar, dass er das Schrumpfen der Bevölkerung nicht stoppen kann. Doch er hat ein Ziel: Auch in 50 Jahren sollen in Japan noch mehr als 100 Millionen Menschen leben. Das wäre nur ein Fünftel weniger als heute.