GESELLSCHAFT
Narkosemittel beeinflussen die Kommunikation der Nervenzellen
Baku, den 9. Juni (AZERTAG). Die Erinnerungsfähigkeit von Kindern, die früh im Leben eine Vollnarkose bekommen, ist lebenslang um bis zu 25 Prozent reduziert. Die Narkosemittel beeinflussen die Kommunikation der Nervenzellen. Als vor gut zehn Jahren eine Mäusestudie der Anästhesistin Vesna Jevtovic-Todorovic im renommierten „Journal of Neuroscience“ erschien, gab es einen kleinen Aufruhr in der Wissenschaftswelt. Das Team um die Forscherin von der University of Virginia hatte junge Ratten, gerade einmal sieben Tage alt, in eine Vollnarkose versetzt, die etwa sechs Stunden dauerte. Die Wissenschaftler nutzten dazu übliche Narkosemittel, wie sie auch bei Kindern eingesetzt werden - zum Beispiel, wenn ein Herzfehler operiert werden muss oder ein Leistenbruch.
Als sie sich ansahen, wie es den kleinen Ratten nach ihrer Vollnarkose erging, war das Ergebnis ein Schock: Nicht nur kurz nach dem Eingriff, sondern langfristig veränderte die Vollnarkose, wie sich Nervenzellen im noch nicht voll entwickelten Gedächtniszentrum des Gehirns, dem Hippocampus, miteinander verbanden, und wie sie miteinander kommunizierten. Das Gedächtnis der Tiere wurde dauerhaft schlechter, und sie lernten weniger schnell und nachhaltig als andere Ratten im gleichen Alter, die keine Narkose bekommen hatten.
Wenn das Gehirn von Rattenbabys so sensibel auf eine Vollnarkose reagiert, so war der Tenor der Reaktionen damals, was heißt das dann für das Gehirn von Kleinkindern, die unter den gleichen Narkosemitteln auf dem Operationstisch liegen? Es folgte eine Welle von Studien, die klären wollte, ob Vollnarkosen das sich noch entwickelnde Gehirn wirklich dauerhaft schädigen können - mit zunächst widersprüchlichen Ergebnissen.
Denn es ließ sich nur schwer voneinander trennen, welche Beeinträchtigungen nach einer OP unter Vollnarkose tatsächlich von der Wirkung der Narkosemittel stammten, und welche von der zugrunde liegenden Krankheit oder der OP-Methode, bei der häufig Gewebe zerstört wird. Auch wusste man bereits, dass andere Faktoren wie ein geringes Geburtsgewicht oder ein zu früher Geburtstermin ebenfalls Risikofaktoren für eine veränderte Entwicklung des GehirnS waren, die man mit berücksichtigen musste.
Die meisten Forscher beschränkten sich daher wie schon das Team von Vesna Jevtovic-Todorovic auf Ratten - denn anders als bei Menschen kann man sie auch dann in eine Vollnarkose versetzten, wenn gar keine Operation nötig ist. Verteilt man Ratten auch noch nach dem Zufallsprinzip auf die Gruppe, die die Narkose bekommt, und jene, die sie nicht bekommt, dann verteilt man auch eventuelle andere Risikofaktoren gleichmäßig auf beide Gruppen - und kann sie so als Ursache ausschließen.
Diese Untersuchungen brachten recht eindeutige Ergebnisse: Narkosemittel verschlechtern Gedächtnis- und Lernprozesse dauerhaft. Genau das ist auch das Resultat der Studie von Forschern um Greg Stratmann von der University of California San Francisco, die jetzt eine neue Studie im Fachmagazin „Neuropsychopharmacology“ veröffentlicht haben. Mit einem Unterschied: Ihnen gelang der Nachweis, dass Narkosemittel die Gedächtnisentwicklung dauerhaft stören, bei Kindern.
Die Wissenschaftler untersuchten 28 Kinder im Alter zwischen sechs und elf Jahren, die vor ihrem zweiten Lebensjahr eine Vollnarkose bekommen hatten, und verglichen sie über einen Zeitraum von zehn Monaten wiederholt mit Kindern, die keine Vollnarkose bekommen hatten. Dazu suchten sie zu jedem Kind mit Vollnarkose ein Kind ohne Vollnarkose, das ihm so ähnlich wie möglich war: Alter und Geschlecht war gleich, ebenso der Intelligenzquotient und bestimmte charakteristische Züge im Verhalten, wie Schüchternheit oder Impulsivität.
Bei allen Kindern führten die Forscher mehrmals Gedächtnistests durch und schätzten aus ihrer Leistung, wie sich ihre Gedächtnisleistung bis zum Erwachsenenalter hin weiterentwickeln würde. Das Ergebnis: Die Gedächtnisleistung der Kinder, die im Alter bis zu zwei Jahren eine Vollnarkose bekommen hatten, war prognostiziert über die gesamte Lebenszeit um etwa 25 Prozent reduziert.
Jungen waren dafür etwas anfälliger als Mädchen - ein Fund, den es auch in den Tierstudien bereits gab. Für die Ergebnisse war nicht wichtig, wie viele Vollnarkosen jemand bereits bekommen hatte. Wer nur einmal operiert worden war, dem erging es demnach nicht besser als jenen, die mehrmals operiert worden waren. Einen Einfluss darauf, wie sehr das Gedächtnis litt, hatte aber die Länge einer Operation: Je länger sie dauerte, desto stärker waren die Gedächtniseinbußen.
Für die starke Wirkung der Narkosemittel gibt es eine recht einfache Erklärung: Gerade im Alter bis zu zwei Jahren ist das Gehirn besonders mit dem Hippocampus beschäftigt. Zwar ist die Mehrzahl der Nervenzellen bereits vor der Geburt im Gehirn angelegt, aber die Nervenzellen müssen erst einen Kontakt zueinander herstellen, um Informationen übertragen zu können.
Auch die Nervenzellen des Gedächtniszentrums verbinden sich erst im Laufe der Zeit mit jenen in anderen Bereichen des Gehirns - das ist unter anderem ein Grund dafür, warum sich Kinder nicht an Ereignisse vor ihrem dritten Geburtstag erinnern können. Im Alter zwischen zwischen fünf und zehn Jahren dann, die Phase, in der auch die Forscher die Tests durchführten, macht die Gedächtnisleistung erhebliche Sprünge.
Gängige Narkosemittel für Kinder scheinen die Bildung der Verbindungen zwischen den Nervenzellen empfindlich zu stören, wie bereits Vesna Jevtovic-Todorovic in ihrer ersten Studie zum Thema vermutete. Demnach blockieren die Narkosemittel die Rezeptoren für den im Gehirn sehr wichtigen Botenstoff Glutamat, und verhindern so, dass Informationen von einer Nervenzelle zur nächsten übertragen werden.
Andere Narkosemittel erhöhen hingegen die Dosis des Botenstoffs Gaba. Er setzt die Erregbarkeit der Nervenzellen herab, und verhindert so ebenfalls die Übertragung von Informationen. „Was für Probleme können diese Erinnerungseinbußen im täglichen Leben haben“, fragen die Autoren in ihrem Fazit. „Das Erinnerungsvermögen spielt eine Rolle für das autobiografische Verständnis, Vorhersagen für die Zukunft, das Lernen im Klassenraum, das Leseverständnis. Deshalb haben selbst kleine Defizite hier unmittelbare Konsequenzen und mindern das Potenzial des Kindes zu lernen“, schreiben sie.
Auch wenn dies die erste Studie mit recht wenigen Probanden ist, die einen Zusammenhang zwischen Vollnarkosen und Gedächtnisleistungen bei Kindern belegt, verdient sie doch Beachtung - auch, weil die ihr vorausgegangenen Untersuchungen an Tieren identische Ergebnisse erbrachten. Zwar werden Vollnarkosen bei Kleinkindern ohnehin nur im Notfall durchgeführt - doch vielleicht bietet sich zukünftig an, das Gedächtnis dieser kleinen Patienten nach einem nötigen Eingriff eine Zeit lang besonders intensiv zu schulen.