Surat: Heimatstadt der Diamanten
Baku den 5. März, AZERTAC
Die Stadt Surat ist dank Hunderttausender billiger Arbeitskräfte zum weltweit größten Umschlagplatz für Diamanten geworden. Der Boom macht viele reich - sie stört auch nicht, dass manche Steine womöglich Krieg und Terror mitfinanzieren.
Um 11 Uhr morgens, sechs Tage die Woche, ereignet sich im indischen Surat eine Völkerwanderung der besonderen Art. Hunderte, Tausende Männer strömen zu einer unscheinbaren Straßenkreuzung im Viertel Mahdiharpura. Sie lassen sich auf den Bürgersteigen nieder, klettern auf Mäuerchen oder beziehen in Hauseingängen Stellung. Bis Mittag haben sich hier über 50.000 Männer versammelt. Sie schwatzen, feilschen, streiten. Viele haben mit blauem Samt bezogene Tabletts auf dem Schoß, auf denen funkelt, was auf diesem Straßenmarkt gehandelt wird. Diamanten.
„Die Steine auf diesem Markt sind mehr wert als so mancher Kleinstaat“, scherzt Pravin Nanavati, selbst Diamantenhändler und ehemaliger Vorsitzender der Handelskammer seiner Heimatstadt. Der 59-Jährige übertreibt, wenn auch nur wenig. Die Surat Diamond Association schätzt, dass auf den zwei Diamantenmärkten in Surat täglich umgerechnet rund 210 Millionen Euro Umsatz gemacht wird.
Bis in die Sechzigerjahre war Surat eine der zahllosen verschlafenen Städte in Indiens Provinz. Dann begannen findige Händler, Diamanten aus Afrika und Australien nach Indien und zu lokalen Edelsteinschleifern zu bringen.
Wenig später setzte ein Boom sondergleichen ein: In nur einer Generation hat sich Surat zum Epizentrum des weltweiten Diamantenhandels entwickelt. Über 90 Prozent aller heute gehandelten Rohdiamanten werden nach Indien gebracht, in Surat geschliffen und wieder exportiert.
Surats Bruttosozialprodukt ist in den vergangenen sieben Jahren jährlich um satte 11,5 Prozent gewachsen, das ist indischer Rekord. Laut der Denkfabrik City Mayors Foundation ist der Ort an der Mündung des Tapti Flusses die am viertschnellsten wachsende Stadt der Erde. Mehr als 500.000 der derzeit fünf Millionen Einwohner arbeiten in der Diamantenbranche.
Surats Erfolg fußt auf dem niedrigen Lohnniveau Indiens. Selbst hochspezialisierte Schleifer kosten ihre Arbeitgeber nur wenig Geld, weshalb die Firmen die Steine günstig anbieten können. Chirag Shah zum Beispiel handelt ausschließlich mit großen Steinen, er führt nur Diamanten mit fünf Karat (ein Gramm) oder mehr. Sechs Angestellte sitzen in seiner Werkstatt vor sirrenden Polierscheiben. Mit routinierter Schnelligkeit pressen sie die in Halter eingespannten Rohdiamanten in verschiedenen Winkeln auf die Scheibe, geben ihnen den Schliff, der den Stein zum Funkeln bringt.
Shahs Schleifer verdienen 35.000 Rupien im Monat, umgerechnet 500 Euro. Für Indien ist das ein Bombengehalt, mehr, als ein Lehrer erwarten kann. Im weltweiten Vergleich ist es ein Hungerlohn. „Dank unserer niedrigen Kosten haben wir den traditionellen Diamantenzentren Antwerpen und Tel Aviv den Rang abgelaufen“, sagt Shah.
Mögliche Geschäfte mit Blutdiamanten - Hinzu kommt, dass die indischen Händler es mit der Herkunft der Diamanten nicht so genau nehmen. Zwar muss bei der legalen Einfuhr von Steinen ein sogenanntes Kimberley-Process-Zertifikat vorgelegt werden. Wie ein Personalausweis hält es die äußeren Merkmale des Steins fest und soll beweisen, dass es sich nicht um sogenannte Blutdiamanten handelt. Damit gemeint sind Rohdiamanten, die in reiche Länder geschmuggelt wurden und die Krieg und Terror unter anderem in Liberia, Angola oder Sierra Leone mitfinanziert haben.
Doch gab es immer wieder Fälle, in denen Schmuggler Steine aus Krisengebieten nach Surat und damit auf den Weltmarkt brachten. Denn wenn ein Stein einmal geschliffen ist, ist nicht mehr nachzuvollziehen, woher er stammt und ob er das Kimberley-Gütesiegel trug.
Den meisten in Indien ist all das jedoch einerlei. Denn der Aufstieg der Stadt Surat hat einen für Indien ungewöhnlich hohen Anteil an Gewinnern produziert. Die Hochhaussiedlungen, in denen die aus den ärmeren Regionen zuziehenden Arbeiter untergebracht werden, sind für hiesige Verhältnisse großzügig und sauber. Die meisten Diamantenschleifer arbeiten unter Bedingungen, von denen andere Inder nur träumen können: Acht-Stunden-Tage, Mittagspause und - im schwülheißen Süden Indiens immens wichtig - ein klimatisierter Arbeitsplatz sind Standard.
Die Stadt ist zum Paradies für Glücksritter geworden. Wer der richtigen Kaste oder Großfamilie angehört, kann auf einen Kredit hoffen - und damit auf eine Chance, reich zu werden. Die meisten der heutigen Diamantenfürsten haben als Schleifer angefangen - so auch Shah und Nanavati.