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Was Chips und Schokolade unwiderstehlich macht
Baku, 6. Mai, AZERTAC
Ist die Tüte erstmal offen, gibt es kein Halten mehr - bei manchen Snacks können wir einfach nicht aufhören. Forscher haben nun analysiert, warum es beim Knabbern zum Kontrollverlust kommt.
Wissenschaftler sprechen von „hedonischer Hyperphagie“, wenn man eigentlich schon satt ist und trotzdem immer weiter Kalorien in sich hineinstopft. Kartoffelchips sind da ein typisches Beispiel. Einmal aufgerissen, ist die Tüte rasch ganz leer.
Lebensmittelchemiker der Universität Erlangen-Nürnberg beschäftigen sich schon länger mit diesem Phänomen - und glauben es jetzt erklären zu können. Ihre Lösung präsentierten sie jüngst auf einer Tagung der Lebensmittelchemischen Gesellschaft in Freisung.
Demnach ist unsere Beherrschung immer dann dahin, wenn Lebensmittel zur Hälfte aus Kohlenhydraten und zu gut einem Drittel aus Fett bestehen. „Man könnte von einer Naschformel sprechen“, sagen die Forscher. "Das ist so eine Zusammensetzung, die uns offensichtlich zum Naschen oder zum Knabbern verführt."
Erdnussflips gleichen Schokolade - Die Arbeitsgruppe der Hochschullehrerin studierte die ungezügelte Völlerei an Ratten.
Den Tieren setzten die Forscher zunächst gemahlene Kartoffelchips vor und dann Futtermischungen mit variierenden Anteilen von Kohlenhydraten und Fetten, den Hauptbestandteilen von Chips. Bei dem 50:35-Testsnack war der Heißhunger der Nager laut Doktorandin Stefanie Kreß am größten, und dieses Verhältnis von Kartoffelstärke (Kohlenhydraten) zu Fetten finde sich auch in Chips: „Erstaunlicherweise nahmen die Tiere in extrem kurzer Zeit bis zu 50 Prozent der Gesamttagesenergie auf.“ Überdies fraßen sie knapp ein Drittel mehr als sonst üblich.
Für die Studien steckten die Erlanger die Ratten sogar in den Kernspintomografen. Gleich im Anschluss an deren Fressorgien, in narkotisiertem Zustand und mit einem Kontrastmittel im Blut. So ließ sich der Stoffwechsel im Gehirn der Tiere abbilden - und wie stark die Futtermischungen jeweils das für Appetit und Heißhunger wichtige Belohnungszentrum ansprachen.
Nicht nur Kartoffelchips, sondern auch anderer Knabber- und Süßkram folgt offenbar der fatalen 50:35-Rezeptur - die „üblichen Verdächtigen“, wie die Forscher sie nennen: „Erdnussflips haben diese Zusammensetzung, auch Schokolade und Nuss-Nougat-Creme“. Bisher habe man gedacht, zum Kontrollverlust beim Essen komme es dann, wenn ein Lebensmittel besonders kalorienreich sei. „Aber wir haben jetzt festgestellt, dass es diese spezielle Zusammensetzung ist, die sehr attraktiv ist“, so die Forscher.
Futtern auf Vorrat - Die Forscher glauben, dass die Ergebnisse auch auf den Menschen übertragbar sind. Um das nachzuweisen, planen sie derzeit eine Folgestudie mit freiwilligen Chips-Essern.
Früher, als das Nahrungsangebot knapp war, mag es sinnvoll gewesen sein, möglich schnell viel in sich hineinzustopfen, sobald sich die Gelegenheit dazu bot - Futtern auf Vorrat gewissermaßen. Heute dagegen herrsche ein Überangebot an Lebensmitteln, wie die Forscher sagen, und da „führt so ein Kontrollverlust dazu, dass wir mehr essen, als wir brauchen, und zunehmen“.
Doch warum ausgerechnet Kohlenhydrate und Fett im 50:35-Mix? Darüber kann man im Moment nur spekulieren. Den Nutzen im hohen Anteil von Kohlenhydraten würden diese „enorm schnell“ zu Traubenzucker abgebaut, dem Hauptbrennstoff für das Gehirn, das ständig sehr große Mengen davon benötigt. Fett dagegen werde langsamer umgesetzt und vom Körper bevorzugt gespeichert.
Chips und Flips könnten also deshalb so verführerisch sein, weil sie beides liefern: viel schnell verfügbare Energie und dazu noch etwas auf Vorrat. „Fett und Kohlenhydrate machen uns auf jeden Fall süchtig", resümiert die Lebensmittelchemiker, im Sinne von „Weiter! Mehr! Her damit“.
Doch was, wenn die Nasch- oder Fressformel jetzt publik wird und so auch die Lebensmittelindustrie Wind davon bekommt? Könnte sie nicht noch mehr Produkte mit 50:35er-Rezeptur auf den Markt bringen und uns zu noch willenloseren Konsumenten machen? „Man braucht keinen Kernspin, um festzustellen, was die Leute gerne essen“, ist die Professorin überzeugt, „ich denke mal, dafür hat die Industrie ihre Marketingstudien“. – so die Forscher.