WISSENSCHAFT UND BILDUNG
Jahrelang hatten Wissenschaftler ein vollkommen falsches Bild des Sonderlings, der vor 508 Millionen Jahren die Meere bevölkerte
Baku, 27. Juni, AZERTAC
Spitze Zähne zierten sein Maul, Tentakel seinen Hals: Forscher haben die Erscheinung des Urtiers Hallucigenia rekonstruiert. Das Mini-Monster krabbelte vor mehr als 500 Millionen Jahren über den Boden der Ozeane.
Wo war vorne und wo hinten, wo oben und wo unten? Jahrelang hatten Wissenschaftler ein vollkommen falsches Bild des Sonderlings, der vor 508 Millionen Jahren die Meere bevölkerte. Die Stacheln auf dem Rücken hielten sie für Beine, aus den Beinen machten sie Tentakel und dort, wo eigentlich der Schwanz saß, meinten sie, einen Kopf zu erkennen.
Jetzt konnten Martin Smith von der University of Cambridge und Jean-Bernard Caron vom Royal Ontario Museum in Toronto das Bild des rätselhaften Wesens, das aufgrund seiner besonderen Erscheinung Hallucigenia getauft wurde, zurechtruckeln.
Bei Untersuchungen unter dem Elektronenmikroskop entdeckten sie einen zuvor noch nicht bekannten Ring nadelförmiger Zähne, der das Maul des Tieres zierte. Auch konnten sie auf den Bildern zwei einfache Augen ausmachen. Anhand der Beobachtungen rekonstruierten die Forscher, wie der Vorfahre vom Wurm bis zum Hummer wohl wirklich ausgesehen hat.
Beine mit Krallen, Rücken mit Stacheln - Mit einer Größe zwischen einem und fünf Zentimetern war Hallucigenia ein winziges Meeresungeheuer. Auf seinem Rücken trug das wurmartige Tier paarweise angeordnete, längliche Stacheln. Sieben Beinpaare, die in kleine Krallen mündeten, ermöglichten es ihm, über den Boden der Meere zu krabbeln. Dabei zierten seinen Hals drei Paar Tentakel, die Richtung Boden zeigten, berichten die Forscher in der Fachzeitschrift "Nature".
Als Wissenschaftler zum ersten Mal Fossilien des Tieres entdeckt hatten, interpretierten sie eine dunkle Blase an einem Ende des Tierchens als kugelförmigen Kopf. In einem ersten Schritt zeigten die Forscher jetzt, dass es sich bei der Blase lediglich um Verwesungsflüssigkeiten handelte, die nach dem Tod aus dem Anus des Tieres ausgetreten waren. Nachdem so das Ende der Kreatur identifiziert war, konzentrierten sich die Forscher auf den Kopf. Dort legten sie unter Sedimenten die Zähnchen frei.
Vorfahre der heutigen Stummelfüßler - „Als wir die Fossilien ins Elektronenmikroskop gelegt hatten, hofften wir anfangs, Augen zu finden. Umso erstaunter waren wir, als uns die Zähne angelächelt haben“, sagt Caron. Entdeckt wurden die Fossilien zwischen 1992 und 2000 im Burgess Shale of Yoho National Park im Westen Kanadas. Sie starben, als sie von einer Schlammlawine begraben wurden, wobei die meisten kopfüber im Sand steckenblieben.
Hallucigenia lebte im Kambrium, einem Zeitalter, in dem sich viele Lebewesen rasant entwickelten. Laut den Forschern ist das Tier Urahn der heute noch lebenden Stummelfüßler. Dabei handelt es sich um wurmförmige Insekten, die ähnlich wie ihr Vorfahr mit krallen-gespickten Stummelbeinen über die Erde krabbeln.