WELT
Indiens Kleinbauern verschärfen den Hunger im Land
Baku, den 28. Juni (AZERTAG). Jedes fünfte Kind in Indien gilt als unterernährt, auch weil rund 40 Prozent der frischen Lebensmittel verderben. Schuld daran sind auch die organisierten Kleinbauern des Landes.
Der Azadpur Markt im Norden Neu-Delhis ist ein Paradies für Kühe. Hunderte von ihnen wandern unter den Dächern herum, die das auf dem Großmarkt gehandelte Obst und Gemüse vor der Sonne und damit dem Verderb schützen sollen - und dabei versagen. In Indiens Norden steigen die Temperaturen im Sommer oft auf mehr als 40 Grad im Schatten. Da nützen die Dächer wenig. 40.000 Tonnen Lebensmittel werden jeden Tag in Azadpur angeliefert, doch ein großer Prozentsatz davon verrottet, bevor er verkauft werden kann. An den Bergen an welkem Grün, die am Ende eines Markttags liegen bleiben, erfreuen sich dann die heiligen Kühe.
Die Szene auf diesem größten Markt Asiens ist symptomatisch für ein Problem, das eine erste Nagelprobe für Indiens neuen Ministerpräsidenten Narendra Modi darstellt. Laut der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) verderben etwa 40 Prozent des in Indien geernteten Obsts und Gemüses, bevor es den Verbraucher erreicht. Den Produzenten gingen dadurch bis zu umgerechnet sechs Milliarden Euro Einnahmen jährlich verloren.
Jedes fünfte Kind gilt in Indien als unterernährt - Doch das ist nicht das größte Problem. Für die Produktion der letztlich weggeworfenen Lebensmittel wird Wasser verwendet, das den Bedarf von 100 Millionen Indern decken würde, schätzt die FAO. Vor allem aber verschärfe der Rott den Hunger in einem Land, in dem Hunderte Millionen Menschen unter der Armutsgrenze leben. Immer noch gilt jedes fünfte Kind in Indien als unterernährt - obwohl mehr als genug Lebensmittel produziert werden, um alle satt zu machen.
Kern des Problems ist eine schlechte Logistik und mangelhafte Infrastruktur. Indiens Agrarwirtschaft ist - im Gegensatz von den von Großkonzernen dominierten Märkten in Übersee - fest in der Hand von zigtausenden Klein- und Zwischenhändlern. Sie haben nicht das Geld, moderne Kühlhäuser oder Lagerhallen zu errichten, dafür aber großen Einfluss, wenn es darum geht, in Neu-Delhi hohe Politik zu machen. Von den Bauern bis zu den Marktschreiern haben alle ein Interesse daran, dass das alte System, in dem jeder seinen noch so kleinen Schnitt macht, bestehen bleibt.
Und genau das ist Modis Problem. Große Investoren zu rekrutieren, die ihr Geld beispielsweise in moderne Kühlhäuser stecken und im Gegenzug einen Teil des Markts übernehmen, sei angesichts der Macht der Agrarlobby des kleinen Mannes kaum durchzusetzen, sagt Anna Westenberger vom Germany Trade & Invest Büro in Neu-Delhi. „Modi wird kaum gegen die Front von Zwischenhändlern ankommen, das ist politisch fast unmöglich.“ Dabei seien die vielen Nutznießer entlang der Lieferketten einer der Gründe, warum so viele Feldfrüchte nicht beim Verbraucher ankämen. „Die vielen Zwischenhändler machen die Transportwege länger. Und es gibt reichlich Leute, die die verderblichen Waren horten, um mit ihnen zu spekulieren“, so Westenberger.
Investition in das Straßennetz - Der größte Hamsterer Indiens ist jedoch der Staat selbst: Die Food Corporation of India (FCI) lagert weit mehr Getreide ein, als vergleichbare Einrichtungen in anderen Ländern. Er beeinflusst dadurch die Getreidepreise enorm.
Modi hatte im Wahlkampf angekündigt, die FCI grundlegend reformieren zu wollen, „damit die harte Arbeit der Bauern nicht umsonst war“. Die Frage ist nun, ob er das gegen die diversen Widerstände durchsetzen kann. Shashanka Bhide vom indischen National Council of Applied Economic Research sagt, dass Veränderungen im Agrarsektor nur durch massive Eingriffe erreicht werden können. Zu diesen müsse auch die Privatisierung des Marktes und die Öffnung gegenüber ausländischen Investoren gehören.
Die Einmischung von Ausländern in den Lebensmittelmarkt jedoch hatte Modi - im Hinblick auf die Stimmen der Agrarlobby - zumindest im Wahlkampf noch abgelehnt. Fraglich ist auch, ob sich ausländische Lebensmittelkonzerne auf ein Abenteuer auf dem indischen Markt einlassen wollen werden. Schon 2012, damals noch unter der Kongress-Partei, hatte die Regierung in Neu-Delhi versucht, ausländische Supermärkte ins Land zu holen. Doch die scheuten vor den vielen Bedingungen zurück, die ihnen gestellt wurden. Sie sollten mindestens 30 Prozent ihrer Lebensmittel von Kleinhändlern beziehen und die Hälfte ihres Kapitals in den Bau von Infrastruktur wie Lager- und Kühlhäuser investieren.
Eine Baustelle kann Modi jedoch umgehend angehen, ohne sich in politischen Fallstricken zu verheddern. Gegen den angekündigten Ausbau des Straßen- und Schienennetzes hat sich bislang nirgends Widerstand geregt. Sollte es so gelingen, die Transportwege und -zeiten für verderbliche Lebensmittel zu reduzieren, müsste auch der Anteil des verdorbenen Essens deutlich zurückgehen.