GESELLSCHAFT
Stromstöße sollen Rheuma und Asthma heilen
Baku, den 18. August (AZERTAG). Alles begann mit einem tragischen Unglücksfall. Mitte der Achtzigerjahre leitete der New Yorker Neurochirurg Kevin Tracey die Obduktion eines knapp einjährigen Mädchens. Es war drei Wochen zuvor mit schweren Verbrennungen der Haut eingeliefert worden. Die Ärzte hatten den lebensbedrohlichen Zustand mit Hauttransplantationen stabilisieren können. Alles schien gut zu verlaufen.
„Wir glaubten, unsere kleine Patientin, die kurz vor ihrem ersten Geburtstag stand, sei übern Berg, denn sie konnte wieder lachen. Am nächsten Morgen war sie tot“, berichtet Tracey. Alle tippten auf eine Abstoßungsreaktion. Blut- und Gewebeanalysen lieferten jedoch ein anderes Resultat.
„Das Immunsystem hatte den Körper mit einem entzündungserregenden Botenstoff überschwemmt. Es war der sogenannte Tumornekrosefaktor, kurz TNF, der eine Schockreaktion ausgelöst hatte, was dann zum Organversagen führte“, erinnert sich Tracey.
Der TNF spielt bei vielen Abwehrreaktionen des Organismus eine zentrale Rolle. Der Immunbotenstoff löst bei Infektionen Fieber aus und heizt so den fremden Eindringlingen ein. Er aktiviert Immunzellen vom Typ der B- und T-Zellen, ruft Granulozyten herbei, welche die Abwehr von Bakterien und Pilzen übernehmen, und bringt Fresszellen auf Trab, welche die Reste der Abwehrschlacht beseitigen.
Der TNF spielt auch bei der Krebsentstehung eine Rolle (daher sein Name), er leitet den kontrollierten Zelltod ein, ist an Zellwachstum und -differenzierung beteiligt und überwacht andere wichtige Signalwege des Immunsystems.
Bei dem kleinen Mädchen war die Produktion des Immunbotenstoffes außer Kontrolle geraten, so viel stand fest. Die Frage war: warum? Kurze Zeit später stießen andere Forscher auf Hinweise für ein Zusammenspiel von Immunbotenstoffen mit dem Gehirn.
Tracey entschloss sich zu einem Experiment, das Klarheit schaffen sollte. Bei Mäusen löste er durch die Gabe eines Giftstoffes eine akute Entzündungsreaktion im Körper aus. Anschließend injizierte er einen entzündungshemmenden Wirkstoff in das Gehirn der Tiere, eine Substanz, die sich nicht über die Blutbahn im gesamten Körper verteilten konnte. So wollte Tracey herausfinden, ob elektrische Anregungen in Form von Nervensignalen für die Immunantwort verantwortlich sind.
Und tatsächlich, die Produktion von TNF stoppte nicht nur im Gehirn. Auch der übrige Organismus schüttete kaum noch TNF aus. Die Stopp-Signale aus dem Gehirn waren über den Vagusnerv in den übrigen Körper gelangt und hatten so das Immunsystem daran gehindert, eine tödliche Schockreaktion auszulösen.
Die Gegenprobe lieferte den Beweis: Wurde die Kommunikation über die Vagusnervenbahn unterbrochen, konnte die in das Gehirn injizierte, TNF blockierende Substanz keine besänftigende Wirkung mehr auf die Abwehrreaktionen im Körper entfalten. Mit dem so bezeichneten „entzündlichen Reflex“, der auf der Stimulation des Vagusnervs beruht, hatte der Forscher einen neuen Ansatz für die Behandlung immunologischer Krankheiten entdeckt.
„Das war der Durchbruch“, erinnert sich Tracey. „Wir erkannten, dass wir das Immunsystem auf direktem Weg beeinflussen konnten.“ Seine Erfahrungen setzt nun die im dem kalifornischen Städtchen Valencia beheimatete Firma SetPoint Medical in die Praxis um.
Der Tod des kleinen Mädchens hat dabei geholfen, dass Millionen Menschen, deren Immunsystem außer Kontrolle geraten ist und den eigenen Körper attackiert, geholfen werden kann. Patienten mit rheumatoider Arthritis beispielsweise könnten von den TNF-Erkenntnissen profitieren.
Ihre Krankheit äußert sich in oft schubartig verlaufenden, sehr schmerzhaften Entzündungen. Sie lassen Gelenke und Knorpel schwellen, versteifen Knochen, Muskeln, Sehnen und Bänder und greifen sogar auf die Organe über.
Neben dem Entzündungshemmer Cortison verschreiben Ärzte zunehmend auch sogenannte Biologika. Sie greifen gezielt in den molekularen Ablauf der Entzündungskaskade ein und sollen so das Leid lindern. Doch nur 50 bis 70 Prozent der Patienten sprechen auf heute verfügbare Medikamente an. Was tun, wenn nichts mehr hilft?
Mit dem neuen Implantat will das US-Unternehmen SetPoint Medical das aufgebrachte Immunsystem besänftigen und so die Krankheit bekämpfen. Es stimuliert über regelmäßige elektrische Impulse den Vagusnerv. Der Vagusnerv zieht vom Gehirn aus in den Körper und kontrolliert die vegetativen Organe von Rachen, Brust und im oberen Bauchraum.
Diesen Signalweg macht sich die sogenannte Vagusnervstimulation schon seit mehr als 20 Jahren bei der Behandlung anderer Krankheiten zunutze. So hilft eine kleine Elektrode, die im Nacken mit dem Vagusnerv verbunden ist, beispielsweise Patienten, die an einer schweren Epilepsie leiden. Durch regelmäßig abgegebene Impulse werden die Anfälle unterdrückt.
Die Forscher um Kevin Tracey, die auch das Immunsystem in den Griff bekommen wollen, haben nun ein elektronisches Gerät von der Größe einer Arzneikapsel entwickelt. Es wird unter die Haut im Nacken des Patienten eingepflanzt und dort mit dem Vagusnerv verbunden.
Die Kapsel stimuliert den Nerv in regelmäßigen Abständen mit schwachen elektrischen Reizen. Die Impulse pflanzen sich bis zur Milz fort, einem Organ im Oberbauch, in dem B- und T-Zellen vermehrt werden, und regeln so das überaktive Immunsystem herunter.
Eine Batterie, welche das Implantat mit Energie versorgt, ist in einem Reif untergebracht, den der Patient um den Hals trägt. Über die „Halskrause“ werden zudem Messdaten drahtlos an eine eigens entwickelte iPad-App weitergeleitet, die den Einsatz des Gerätes überwacht.
Eine klinische Pilotstudie wurde bereits erfolgreich abgeschlossen, berichtet das Unternehmen auf seiner Web-Seite. In die dreimonatige Studie waren insgesamt 18 Patienten im Erwachsenenalter eingeschlossen, die alle an rheumatoider Arthritis litten und bei denen zuvor eine medikamentöse Therapie keine Besserung erzielt hatte.
Obwohl in der Studie zunächst nur Sicherheit und Wirksamkeit des Implantats geprüft wurden, habe sich der Zustand bei einigen von ihnen so weit gebessert, „dass sie kaum oder keine Schmerzen mehr spüren“, berichtet das Magazin der „New York Times“.
Die ermutigenden Ergebnisse haben die Pharmaindustrie hellhörig gemacht. Das britische Unternehmen GlaxoSmithKline finanziert die Arbeiten von SetPoint Medical mit umgerechnet rund 20 Millionen Euro.
Die Perspektiven einer elektrischen Regulation des Immunsystems scheinen so verlockend, dass Protagonisten wie das US-Unternehmen Electrocore Medical bereits die Ära der "Elektrozeutika" heraufziehen sehen. Die Firma mit Sitz in Basking Ridge im Bundesstaat New Jersey hat ebenfalls einen elektrischen Vagusnervstimulator entwickelt, der im Nackenbereich implantiert wird.
Eine 40-Millionen-Dollar-Finanzierung, umgerechnet sind das rund 30 Millionen Euro, an der unter anderem der US-Pharmahersteller MSD Sharp & Dohme beteiligt ist, ermöglicht es dem Unternehmen, die Technologie gleich in mehreren klinischen Pilotstudien zu erproben.
Neben Asthma, ein Leiden, das auf ein überaktives Immunsystem zurückgeht, untersucht das Unternehmen den Einsatz eines Vagusnervstimulators zur Behandlung von Clusterkopfschmerzen. Typisch für die Form der Kopfschmerzen sind die sich über Wochen häufenden Attacken. Danach herrscht einige Zeit Ruhe, bis es wieder zu einer Serie von Kopfschmerzanfällen kommt.
„Bei Clusterkopfschmerzen kommt es zu einer Störung des vaskulären und autonomen Gleichgewichtes“, sagt der Neurologe Hartmut Göbel von der Schmerzklinik Kiel. Deshalb schlagen bei vielen Patienten Medikamente nicht an. Für sie rücken seit Kurzem Möglichkeiten der peripheren Nervenstimulation als Behandlungsmöglichkeit in den Fokus, so der Experte.
Auch Andreas Straube von der Neurologischen Klinik am Universitätsklinikum Großhadern in München kennt die positiven Ergebnisse der Vagusnervstimulationen. Untersuchungen, sagt er, hätten gezeigt, dass bei etwa 72 Prozent der Betroffenen mit Clusterkopfschmerz die Schmerzhäufigkeit und -intensität um mehr als 50 Prozent nachlasse. „Auch noch nach fünf Jahren war ein Großteil der Betroffenen schmerzfrei“, sagt Straube.
Wie genau die Methode wirkt, ist unklar. „Wahrscheinlich unterbinden die elektrischen Reize die Weiterleitung der Schmerzsignale im Hirnstamm“, vermutet Straube. Das Verfahren sei dennoch sicher, reversibel und die Risiken überschaubar. „Schlägt die Stimulation nicht an, werden die Elektroden wieder entfernt. Bis auf den Hautschnitt bleiben keine körperlichen Veränderungen zurück.“
Sogar Tinnitus wollen US-Forscher mithilfe der elektrischen Stimulation bekämpfen. „Ohrgeräusche entstehen, weil 'unterbeschäftigte' Neuronen in der Hörrinde des Gehirns Sinnesempfindungen erzeugen, die es in Wirklichkeit nicht gibt“, sagt Michael Kilgard von der University of Texas in Dallas. Der Therapieansatz bestehe darin, das Gehirn „umzutrainieren“, indem es mit künstlichen Signalen versorgt wird.
Auch hier soll ein Vagusnervstimulator helfen. Bei Ratten gelang es bereits, künstlich gesetzte Tinnitus-Missempfindungen abzuschwächen. Die Forscher koppelten dazu die elektrischen Impulse, die der Vagusnervstimulator lieferte, mit dem Frequenzbereich des Tinnitus. Bald könnten auch Tinnituspatienten mit einem Stimulator ausgerüstet werden, glaubt Kilgard.
Kevin Tracey, heute Direktor am Feinstein Institute for Medical Research im US-Bundesstaat New York, sieht die Elektrotherapie vor einer großen Zukunft. „Nervensystem und Immunsystem sind eng miteinander verknüpft“, sagt er. „Sie haben eine gemeinsame Co-Evolution durchgemacht.“
Während Forscher in aller Welt sich anschicken, das menschliche Gehirn bis auf die Ebene von einzelnen Neuronen zu kartieren, will Tracey das Augenmerk auf die Verflechtungen mit der Immunabwehr lenken: „Es gibt noch eine Menge neuraler Schaltkreise zu entdecken, die mit unserem Immunsystem in enger Beziehung stehen. Das könnte die Medizin einen großen Schritt voranbringen.“