Warum Kreativität gegen das Zweifeln hilft

Baku, 19. Februar, AZERTAC
Sie würden gern weniger zweifeln und einfach mal machen? Dann werden Sie kreativ. Zwischen Pinsel und Farbe, Gitarrenklängen und Gedichtzeilen verblasst der „innere Kritiker“. Das legt zumindest eine Studie nahe, die vom Brigham and Women’s Hospital der Harvard University veröffentlicht wurde. Sie liefert zudem eine Erklärung dafür, weshalb die Kreativität bei manchen Hirnverletzungen gesteigert wird.
Da frühere Studien zu unterschiedlichen Ergebnissen in der Frage kamen, welche Hirnregionen bei kreativen Prozessen aktiviert werden, analysierten Julian Kutsche von der Charité-Universitätsmedizin Berlin und seine Kollegen zunächst die Daten aus 36 verschiedenen Studien, die zwischen 2004 und 2019 veröffentlicht wurden. Die Ergebnisse glichen die Wissenschaftler anschließend mit Hirnscans aus 30 weiteren Studien ab. Auch Daten von 56 Patienten, die eine Hirnverletzung erlitten hatten, sowie von 4804 Menschen mit neurodegenerativer Erkrankung flossen in die Studie mit ein.
Wissenschaftler identifizieren neuronalen Schaltkreis - Das Ergebnis: Die Forschenden konnten einen gemeinsamen neuronalen Schaltkreis identifizieren, über den alle kreativen Aufgaben verarbeitet werden. „Wir fanden heraus, dass Kreativität nicht auf eine bestimmte Gehirnregion, sondern auf einen bestimmten Gehirnschaltkreis abgebildet wird“, sagt Michael Fox von der Harvard University.
Auch für die Unstimmigkeiten früherer Studien bezüglich der aktivierten Hirnareale haben Fox und Co. eine Antwort: Wird der Schaltkreis durch Kreativität in Gang gesetzt, so beteiligen sich Hunderte verschiedene Hirnareale an dem Prozess. Welche Regionen jeweils aktiv sind, hängt demnach von der kreativen Tätigkeit ab. Schließlich schließt Kreativität nicht nur künstlerische Betätigung, sondern etwa auch Improvisation mit ein.
Eine Konstante ließ sich in der Auswertung der Hirnscans allerdings beobachten: Führten Patienten eine kreative Aufgabe durch, so wurde immer ein Teil des Kreativitäts-Schaltkreises aktiv – wohingegen der Frontalpol eine verminderte Aktivität zeigte. Der Polus frontalis ist das Ende des hinter der Stirn sitzenden Frontallappens, wie AZERTAC unter Berufung auf Spiegel berichtete.
Die Funktion des rechten Frontalpols steht im Widerspruch zum kreativen Prozess: Er ist für regelgestütztes Verhalten und dessen Überwachung von Bedeutung. Die Hirnforscher kommen dementsprechend zu dem Schluss, dass während kreativer Beschäftigung möglicherweise einschränkende Faktoren wie Selbstbewertung, Selbstüberwachung und Selbstzensur gehemmt werden. „Um kreativ zu sein, müssen wir vielleicht unseren inneren Kritiker ausschalten, um uns zu erlauben, neue Richtungen zu finden und sogar Fehler zu machen“, sagt Mitautor Isaiah Kletenik.
Gesteigerte Kreativität bei Hirnverletzungen - Die Hirnscans von Menschen mit Hirnverletzungen oder neurodegenerativen Erkrankungen boten den Forschenden teils unerwartete Erkenntnisse: So zeigten einige der Patienten trotz ihrer Erkrankung erstaunlicherweise eine gesteigerte Kreativität, während bei anderen das Gegenteil der Fall war. Für die Studienautoren ein Hinweis darauf, dass die Region des betroffenen Kreativitäts-Schaltkreises entscheidend ist, ob die Kreativität leidet oder nicht.
„Diese Ergebnisse könnten helfen zu erklären, wie einige neurodegenerative Erkrankungen zu einer Abnahme der Kreativität führen können, während andere eine paradoxe Steigerung der Kreativität zeigen können“, sagt Kletenik.