WELT
Flüsternde Kathedralenwände
Baku, den 12. Februrar (AZERTAG). Was dachten und fühlten die Menschen im Mittelalter? Eine Antwort haben Forscher jetzt im britischen Norfolk gefunden: Graffiti, die vor Jahrhunderten in die Wände von Kirchen geritzt wurden. Die Inschriften sind so tief, dass sie nicht heimlich entstanden sein können.
Wenn sich heute jemand mit einem spitzen Gegenstand an einer Kathedralenwand zu schaffen macht, kommt uns das höchst befremdlich vor. Im Mittelalter aber war es durchaus gang und gäbe, seine Gedanken, Wünsche und Flüche an Kirchenwänden zu verewigen.
In einem bisher einmaligen Projekt hat der Norfolk Medieval Graffiti Survey mit Hilfe von Freiwilligen und in enger Zusammenarbeit mit dem Dekan, dem Domkapitel sowie dem Archäologen der Kathedrale nun begonnen, die zahlreichen Graffiti an den Wänden der Norwich Cathedral näher zu untersuchen.
Zu Tage kommt ein Schatz von Einblicken in die mittelalterliche Gesellschaft. „Die Wände sind bedeckt mit allem, was man sich nur denken kann“, erklärt Projektleiter Matthew Champion. „Mittelalterliche Schiffe, Namen, Tiere, Windmühlen, Figuren und Gebete. Einfach alles, was den Bürgern von Norwich im Mittelalter wichtig war.“
Und anscheinend hatte die Kirchenleitung nichts dagegen, dass die Gläubigen ihre Botschaften in die Wände ritzten. Einige der Inschriften sind so tief in den Stein geschürft, dass sie nicht mal eben heimlich im Vorbeigehen entstanden sein können. Der Verfasser muss in aller Seelenruhe viele Stunden damit verbracht haben, sein Werk zu vollenden - ohne dass ihn jemand daran hinderte.
„Ich glaube, wir müssen verstehen, dass unsere moderne Auffassung von der Kathedrale sich grundlegend von der Art unterscheidet, wie die Menschen hier sie im Mittelalter sahen“, meint Champion.
Zu den verblüffendsten Funden gehören eine Reihe von Graffiti, anscheinend Namen, die kopfüber an den Mauern prangen. Zunächst glaubten die Entdecker, die Inschriften seien bereits vor dem Bau der Kathedrale in die Steine geritzt und dann lediglich verkehrt herum eingesetzt worden. Doch Champion hat eine andere Erklärung: „Wie kennen diese Praxis aus früheren Perioden - wenn Namen verkehrt herum oder rückwärts geschrieben werden. Man glaubte, es bringe dem Genannten Unglück. Im Klartext: ein Fluch.“
Die frühesten Grafitti datieren bereits aus dem 15. Jahrhundert, aber auch noch im 16., 17. und 18. Jahrhundert benutzten die Bürger von Norwich die Kathedrale als Pinwand für ihre Botschaften. „Du weißt nie, was du als nächstes findest: ein Gebet, einen Fluch, ein Schiff oder eine Windmühle“, freut sich Vizeprojektleiter Colin Howey. „Es ist ein echtes Fenster in die geheime Vergangenheit der Kathedrale.“